Im Haus Werderstraße 12 wurde am 15. Februar 1933 das Kabel mit einem Beil abgehakt und damit die Rede von Hitler abgeschnitten. Foto: Historisches Archiv des SWR (z) - Historisches Archiv des SWR (z)

Rolf Schlenker hat einen Tatsachenroman zum Kabelattentat in Stuttgart geschrieben und arbeitet diese Widerstandshandlung gegen Hitler erstmals ausführlich auf, die sich am 15. Februar 1933 ereignet hat.

Stuttgart-OstVier Kommunisten haben am 15. Februar 1933 in Stuttgart den Wahlkampfauftakt Hitlers mit einem Kabel-Attentat gestört und die Rundfunkübertragung gestoppt. Der Wissenschaftsjournalist Rolf Schlenker hat dazu einen Tatsachenroman geschrieben. Im Gespräch erklärt er, wie er dazu kam.

Herr Schlenker, wie sind Sie auf das Thema des Kabelattentats gekommen?
Meine Mutter wuchs in der Werderstraße auf, ein paar Häuser vom „Attentats“-Ort, der Stadthalle, entfernt. Das war damals für die Anwohner aufregend, zunächst der „Führer“ persönlich in unmittelbarer Nähe, dann diese Aktion, nach der viele befürchteten, dass sie ein schlechtes Licht auf Stuttgart werfen würde. Dann bekamen die Anwohner die Polizeiaktionen aus nächster Nähe mit. Die Geschichte wurde im Familienkreis Jahrzehnte später noch erzählt. Irgendwann dachte ich: Dieser Sache gehst Du jetzt mal nach.

Was hat Sie an dem Widerstands-Akt fasziniert?
Obwohl Hitler da erst seit zwei Wochen an der Macht war, wusste man schon aus früheren Wahlkämpfen, wie brutal die Nazis mit ihren Gegnern umgingen. Dass in dieser Situation einige Männer, die meisten Familienväter, den Mut aufbrachten, sich aus ihrer Deckung heraus zu wagen und offen in den Widerstand zu gehen, das erfüllt mich mit großem Respekt. Ich habe mich gefragt, wie ich mich da verhalten hätte.

Ist es Ihre erste Geschichte über Widerständler?
Ja. Ich bin von Haus aus Wissenschaftsjournalist und habe Bücher zu Themen wie „Wetter/Klima“, „Steinzeit“ und „Marathonlaufen“ geschrieben, aber auch zwei Einsteiger-Bücher über Malerei und Architektur.

Einer der vier Widerständler stammt aus Stuttgart-Münster, Alfred Däuble. Was war er von Beruf und welche Aufgabe hatte er beim Kabelattentat?

Alfred Däuble war damals 21 Jahre alt und von Beruf Zimmermann. Er war von einem kommunistischen Kommando unter dem späteren SED-Chefideologen Kurt Hager ausgesucht worden, Hitlers Rede zu stören, in dem er das Übertragungskabel des Süddeutschen Rundfunks zerschlug. Hintergrund war Hindenburgs Verordnung „zum Schutze des Deutschen Volkes“ vom 4. Februar 1933, mit der die Versammlungs- und Pressefreiheit weitgehend eingeschränkt wurde. Ziel waren die Linken, Wahlveranstaltungen der NSDAP fanden uneingeschränkt statt. Da sagten sich die Stuttgarter Kommunisten: „Wenn wir nicht reden dürfen, darf der Hitler auch nicht reden“.

Der Beilhieb selbst am 15. Februar, was hat sich da abgespielt im Stuttgarter Osten und dann auf dem Marktplatz?
Fast wäre alles schief gegangen. Das Übertragungskabel aus der Stadthalle verlief an zwei Stellen oberirdisch. Die vier hatten sich in zwei Trupps aufgeteilt. Als ein Trupp an der einen Stelle, im Hinterhof der Neckarstraße 220, zum Kabel hochsteigen wollten, wurden sie von einem SA-Wachtrupp entdeckt. Die beiden reagierten blitzschnell, schalteten auf harmlos und erzählten überzeugend die Story, dass sie gerade beim Fensterln gewesen seien.

Nun kam Plan B zum Zug: der zweite Ort in einer Hofeinfahrt in der Werderstraße, gegenüber der Stadthalle, also mitten im Auge des Orkans. Diese Stelle war von zwei Wächtern gesichert. Da musste erst mal ein Vorgehen besprochen werden. Erst kurz vor dem geplanten Ende konnten die vier handeln. Der eine Trupp, Eduard Weinzierl und Wilhelm Bräuninger, stürzte sich auf die Wächter, prügelte auf sie ein und rannte davon, die wütenden Wächter hinterher. Diesen Moment nutzten die anderen beiden: Alfred Däuble stieg auf die Schultern des kräftigen Winzersohns Hermann Medinger, schlug zwei Mal zu und beendete so Hitlers Wahlrede mitten im Satz. Auf dem Stuttgarter Marktplatz, wo viele NSDAP-Anhänger, die keinen Platz mehr in der Stadthalle gefunden hatten, die Übertragung hörten, wurde die Unterbrechung kaum zur Kenntnis genommen. Man dachte, das sei wieder eine dieser technischen Störungen. Aber Hitler und Goebbels hätten getobt, hieß es.

Auf was für Quellen konnten Sie sich hier berufen?
Auf Erinnerungen von Rundfunkleuten, Zeitungsmeldungen, Goebbels Tagebuch und Erzählungen von Mittätern.

Es liegt auch ein Stolperstein im Stuttgarter Osten für Theodor Decker in der Schönbühlstraße 78. Was war seine Aufgabe beim Kabelattentat?
Theodor Decker war der Ideengeber des Kabelattentats. Er war Angestellter beim Telegrafenbauamt am Stöckach. Von der Stadthalle bis zu dem Amt verlief das Rundfunkübertragungskabel unterirdisch, an zwei Stellen eben auch oberirdisch. Dieses Wissen gab Decker an die Planer um Kurt Hager weiter. Am Kabelattentat selbst war er nicht beteiligt, er versuchte, sich an diesem Abend gute Alibis zu verschaffen.

1935 wurde Decker verhaftet und ins KZ Dachau gebracht? Was passierte mit den anderen Widerständlern?
Warum Theodor Decker verhaftet wurde, blieb bis 1990 ein Rätsel. Die Nazis hatten ihn nie mit dem Kabelattentat in Verbindung gebracht. Sein Sohn erfuhr erst 55 Jahre später von einem Bekannten seines Vaters, dass sein jetziger Stiefvater damals Decker denunzierte, weil er sich in dessen Frau verliebt hatte – eine unfassbare Niedertracht. Decker musste erst in Gefängnis, wurde dann unter Polizeiaufsicht gestellt, das hieß damals: Konzentrationslager. Nach einer langen Reise durch viele KZs und einer endlosen Zeit der Quälereien starb er im Januar 1940 im KZ Mauthausen. Die anderen vier wurden erst zwei Jahre später entdeckt – sie erhielten für damals überraschend milde Strafen von rund zwei Jahren Gefängnis.

Auch die Gaststätte Löwen in Bad Cannstatt spielte eine Rolle, inwiefern? Was geschah dort?
Es gibt unterschiedliche Darstellungen. Die, für die ich mich entschieden habe, sieht so aus: Am 17. Dezember 1935, mitten unter der Woche, sitzt Wilhelm Bräuninger spät abends mit Freunden im „Löwen“. Da erscheint seine Frau und versucht ihn nach Hause zu holen. Er will noch nicht gehen. Schließlich sagt sie voller Zorn: „Wenn Du jetzt nicht mitkommst, dann erzähle ich hier, wer dem Hitler vor zwei Jahren das Wort abgeschnitten hat“. Am Nebentisch hört das einer, steht auf und ruft von der nächsten Telefonzelle aus die Polizei an.

Wie lange haben Sie für das Buch recherchiert und wo?
Gut zehn Jahre mit Unterbrechungen in Zeitungsarchiven, Archiven der Württembergischen Landesbibliothek, dem Staatsarchiv in Ludwigsburg und im Stadtarchiv Stuttgart. Der Stuttgarter Historiker Elmar Blessing hat den Leidensweg von Theodor Decker minutiös recherchiert. Als ich das las, band das alles zusammen: Erzählfetzen über die Kabelattentäter, die wenigen Fakten über die Tat, all das bekam nun eine hoch emotionale und tragische menschliche Dimension, es wurde zu einer Geschichte von Mut, Widerstand, Liebe, Verrat, Leid und Tod.

Gab es bis heute dazu Gedenkveranstaltungen zum Kabelattentat, wenn ja, wo?
Das Kabelattentat spielt im öffentlichen Gedenken Stuttgarts fast keine Rolle. Mal ein Zeitungsartikel zum Jahrestag, keine Gedenkveranstaltungen, keine Gedenktafel, nichts. Der Stolperstein vor Deckers Haus geht auf eine Privatinitiative zurück. Einige Stuttgarter Historiker erklären, was ich plausibel fand, die „Attentäter“ waren Kommunisten. Nach dem Krieg begann der Kalte Krieg. Nun war es nicht mehr opportun, Linke zu ehren, man hielt sich lieber an Widerstandskämpfer aus konservativen oder kirchlichen Kreisen.

Was möchten Sie mit Ihrem Buch bewirken?
Ich möchte erreichen, dass diese mutigen Männer und Frauen im Umfeld des „Kabelattentats“ die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen, und den Respekt. Und dass die Stadt, deren Namen diese allererste und für lange Zeit einzige Widerstandsaktion trägt – „Stuttgarter Kabelattentat“ – doch vielleicht ein bisschen stolzer drauf sein könnte.

Die Fragen stellte Iris Frey

Rolf Schlenker: „1933 – Ein Beil gegen Hitler“, 128 Seiten, 15,99 Euro, Silberburg Verlag, ISBN 978-3-8425-2207-7.