Fertig für den Auftritt: Babette Kage nach der Maske. Foto: privat - privat

Babette Kage steht zum ersten Mal auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Und das mit 96 Jahren. Als Statistin ist sie in der „Iphigenie en Tauride“ in der Stuttgarter Staatsoper zu sehen.

UntertürkheimAufgeregt? Warum sollte sie das sein? Babette Kage schaut verwundert. Nein, sie sei „kein bisschen“ aufgeregt, wenn sie auf der Bühne der Staatsoper Stuttgart steht, sagt sie mit fester Stimme. Und fügt schmunzelnd hinzu: Sie müsse als Statistin ja nicht viel machen. „Ich laufe ein bisschen herum, darf Buttercremetorte essen und fernsehen.“ Dabei ist Babette Kage ein absoluter Neuling auf den Brettern, die die Welt bedeuten – und das mit 96 Jahren!

Dass die Untertürkheimerin derzeit als eine von insgesamt sieben älteren Damen in Krzysztof Warlikowskis Inszenierung der „Iphigénie en Tauride“ mitwirkt, habe sie ihrer Enkelin zu verdanken, erzählt Babette Kage freudestrahlend. „Sie hat das eingefädelt.“ Julia Vetter springt ihr erklärend zur Seite: Sie habe ihre Großmutter zum Geburtstag im November vergangenen Jahres mit einem besonderen Geschenk überraschen wollen: „Ich habe ihr gesagt: Wir gehen morgen in die Oper.“ Aber nicht, wie Babette Kage zunächst annahm, als Zuschauerin. Sondern zu einem Casting für Statisten. Ohne zu zögern habe die 96-Jährige zugestimmt. „Das hat mich eben interessiert“, fügt sie fast entschuldigend hinzu.

Ein Glück, so etwas zu erleben

Babette Kage war eine von vielen Bewerberinnen – gesucht wurden Frauen ab 70 Jahre, denn der Regisseur stellt der Titelheldin anstelle der griechischen Priesterinnen einen stummen Chor älterer Damen an die Seite. „Nach meinem Alter hat mich aber niemand gefragt. Die waren im Nachhinein wohl selbst überrascht, dass ich schon 96 bin“, erinnert sie sich noch ganz genau an diesen Tag. Angesehen hat man ihr das Alter offenbar nicht. „Ich musste ein paar mal hin und her laufen, mich auf einen Stuhl setzen und aus einem leeren Becher trinken.“

Kurz vor Weihnachten kam schließlich die Zusage – und war zunächst ein „Schock“ für die Familie: „Wir hatten gedacht, dass es sich nur um eine kurze Szene handelt“, erzählt Julia Vetter, die eigene Erfahrungen als Statistin an der Oper hat. „Aber sie ist fast den ganzen Abend im Einsatz.“ Immerhin vier Akte hat die „Iphigénie“ von Christoph Willibald Gluck, die Aufführung dauert inklusive Pause zweieinhalb Stunden. Geprobt wurde für die insgesamt acht Vorstellungen seit Ende März, fast zwei Dutzend Termine hat Babette Kage allein in der Vorbereitungsphase wahrnehmen müssen. Ohne die Familie, die die Fahrdienste übernimmt, könnte sie das Pensum nicht schaffen, räumt sie ein und bedankt sich aus tiefstem Herzen: Sie sei „sehr glücklich, so etwas im hohen Alter noch erleben zu dürfen“.

Lebenswege spiegeln sich wider

Babette Kage tritt mal im rosafarbenen Morgenmantel auf, mal im schwarzen Abendkleid mit Hut. Was ihr besonders gefällt? Sie denkt einen Moment nach und antwortet knapp: „Ach, eigentlich alles.“ Die Erfahrung auf der Bühne ist für die rüstige Seniorin, die seit Jahrzehnten im Uhlbacher Kirchenchor singt und sich mit Seniorengymnastik fit hält, das eine. Viel spannender findet sie aber das, was hinter den Kulissen des Opernbetriebes passiert: die Bühnentechnik, das Schminken, der Zusammenhalt der Akteure. „Es sind alle sehr nett zu mir.“ Zu ihren Mitstreiterinnen hat sie besonderen Kontakt. Denn im Laufe der Proben kamen sie ins Gespräch darüber, wie sehr sich Erfahrungen ihrer eigenen Lebenswege in Glucks Oper widerspiegeln: die Prägung durch familiäre Strukturen, der Umgang mit Verlusten und Abschieden, das Verhältnis von Erinnern und Vergessen oder aus Verschweigen, nicht zuletzt der Krieg und seine Wirkung, auch über sein Ende hinaus.

Im Programmheft werden die Biografien dargestellt. Babette Kage schildert ihre Kindheit und Jugend in Nürnberg: Sie war gerade vier Jahre alt, als ihr Vater einen tödlichen Arbeitsunfall hatte. Die Mutter zog die sechs Kinder, alle zwischen 1915 und 1926 geboren, unter großen Entbehrungen allein auf. Eine Schwester starb an Diphtherie, der Großvater nahm sich das Leben, als Hitler an die Macht kam. 1940 musste sie zum Reichsarbeitsdienst in den Sudenten-Gau an der heutigen Grenze zwischen Deutschland und Tschechien, kam 1945 mit dem Flüchtlingsstrom zurück, doch niemand von ihrer Familie war mehr in Nürnberg. Das Haus mit der Wohnung war zerbombt und ausgebrannt – ihre Mutter hatte in jener Nacht ihrem schicksalsreichen Leben ein Ende gesetzt. Später fanden die Geschwister wieder zueinander, nur der jüngste Bruder blieb verschollen. „Mit meiner Tochter habe ich erst sehr spät angefangen, über meine Eltern und den Krieg zu sprechen“, räumt Babette Kage ein. Ihre Statistenrolle sei Auslöser dafür gewesen. Intensiv habe sie sich mit der Geschichte der Iphigénie beschäftigt. Solche mythischen Geschichten mag sie. „Ich habe schon immer gerne und viel gelesen, vor allem Hölderlin, Fontane, Stifter, Matthias Claudius.“

Im Februar nächsten Jahres soll die „Iphigénie en Tauride“ noch einmal an der Stuttgarter Oper aufgeführt werden. Die Statisterie hat bei Babette Kage bereits angefragt, ob sie dann wieder zur Verfügung steht. Zugesagt hat sie noch nicht. „Ich lasse mir das offen.“

Die Oper „Iphigénie en Tauride“ von Christoph Willibald Gluck wurde am 18. Mai 1779 an der Académie Royale de Musique in Paris uraufgeführt. Die aktuelle Produktion stammt von der Opéra national de Paris, die Stuttgarter Neueinstudierung feierte am 28. April in der Staatsoper Premiere. Es gibt noch zwei Vorstellungen: Morgen, 19. Mai, um 19 Uhr, und am 30. Mai, um 18 Uhr. Infos und Karten gibt es online unter www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan.