Dem Festival fehlt bislang zwar vielleicht ein wenig Glanz, aber nicht die Abwechslung. Dafür sorgen unter anderem ein Bigfoot-Drama und ein Dokumentarfilm über die Rückgabe von einst von der Kolonialmacht Frankreich geraubten Kunstwerken.
Zu klein, zu abseitig, zu sperrig – so ähnlich lauteten gerne mal Kritikpunkte, die gegen die Programmauswahl von Carlo Chatrian, dem Künstlerischen Leiter der Berlinale, ins Feld geführt wurden. Zumindest teilweise dürften diese Vorbehalte dazu beigetragen haben, dass er (genau wie seine Geschäftsführende Partnerin) nach Erfüllung ihres Fünfjahresvertrages nun nach dem laufenden Festival ihren Hut nehmen. Dass allerdings all diese Beschreibungen tatsächlich auf viele der von Chatrian und seinem Team gezeigten Werke zutrifft, heißt noch lange nicht, dass es sich dabei um schlechte Filme handelt, wie der aktuelle Jahrgang wieder beweist.
„Langue Étrangère“, der neue Film der französischen Regisseurin Claire Burger beispielsweise, hätte thematisch zwar auch in der Jugend-Reihe Generation laufen können und erzählt eine letztlich bescheidene Story. Aber qualitativ lässt sich wenig aussetzen an der Geschichte über die Freundschaft zweier Schülerinnen. Fanny (Lilith Grasmug) aus Straßburg und Lena (Josefa Heinsius) aus Leipzig kennen sich eigentlich nur als Email-Freundinnen, ihre Mütter standen sich früher nahe. Dann kommt die schüchterne Französin für ein paar Wochen nach Deutschland. Nach und nach kommen sie sich in mehrerlei Hinsicht näher – und es zeigt sich, dass jede Familie ihre ganz eigenen Konflikte birgt.
Eindrücklicher Appell
Ist das ein Film, der in Erinnerung bleiben wird als einer der ganz Großen dieses Kinojahres? Mutmaßlich nicht. Aber ein feiner, nuancierter Blick auf Pubertät, Generationsunterschiede und europäische Gemeinsamkeiten ist Burger allemal gelungen. Das Spiel mit der Zweisprachigkeit ist charmant, die beiden jungen Hauptdarstellerinnen sind enorm überzeugend, und in den Mütter-Rollen setzen Nina Hoss sowie Chiara Mastroianni kleine Glanzlichter.
Deutlich ambitionierter und fraglos in die Kategorie „weit weg vom Mainstream“ fallend, ist die neue Arbeit von Burgers Landsfrau Mati Diop, deren erster Spielfilm „Atlantique“ vor fünf Jahren in Cannes gefeiert wurde. Mit „Dahomey“ hat sie sich nun einen Dokumentarfilm vorgenommen – und dabei Erstaunliches geschaffen. In nicht einmal 70 Minuten begleitet sie die Rückgabe von 26 einst von der Kolonialmacht Frankreich geraubten Kunstwerken und Artefakten an Benin. Einem dieser Kulturgüter gibt sie buchstäblich eine geradezu überirdische Stimme, auch Diskussionsrunden über die Rückgabe von Raubkunst und deren anschließende Präsentation sind Bestandteil des Films. Statt spröde und trocken ist „Dahomey“ eher eine Art poetischer Essay, hochpolitisch und komplex, sowie ein eindrücklicher Appell dafür, wie dringend Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung sich von der Dominanz weißer und westlicher Unterdrückerstrukturen befreien müssen.
Schräge Szene mit Puma und Plazenta
Eine verblüffende Erzählstimme aus dem Off hat auch „Pepe“ zu bieten, vom aus der Dominikanischen Republik stammenden Filmemacher Nelson Carlo De Los Santos Arias. Hier spricht eines von Pablo Escobars Nilpferden, das erste und einzige, das je auf dem amerikanischen Kontinent getötet wurde. Das Ergebnis ist eine Migrationsgeschichte der etwas anderen Art, ein facettenreicher Experimentalfilm voller Humor, Abgründigkeit und eindrucksvollem Sound. Ein Film, der nichts mit Glamour oder Massengeschmack zu tun hat – und genau deswegen unbedingt bei einem großen Festival wie der Berlinale sein Zuhause finden muss.
Auch das englischsprachige Kino zeigt sich dieser Tage wagemutig. Und das sogar mit prominenter Besetzung. Kristen Stewart, vergangenes Jahr noch Jury-Präsidentin, kehrte mit ihrem neuen Film „Love Lies Bleeding“ nach Berlin zurück, der als Special Gala gezeigt wurde. Der berühmten Hauptdarstellerin auf den Leib zugeschrieben hat die britische Regisseurin Rose Glass einen wilden Genre-Mix, halb Grusel-Thriller, halb Romanze zwischen einer Gangster-Tochter und einer Bodybuilderin mit Aggressionspotenzial, angesiedelt in den schwitzig-schwülen Spät-Achtzigern in New Mexico. Fast hätte das noch ein wenig blutiger, provokanter und abseitiger sein können, Spaß macht der Film aber allemal.
Gleiches gilt auch für „Sasquatch Sunset“ von den Brüdern Zellner, eine überraschende Bigfoot-Geschichte. Jesse Eisenberg und Riley Keough spielen zwei von vier dieser Wesen, die durch die weite, oft unberührte Natur des amerikanischen Nordwestens ziehen, nicht wiederzuerkennen unter ihrem Fell. Sprechen tun sie nicht. Diese Mischung aus emotionalem Familiendrama und schräger Satire kommt ohne Worte, nur mit Grunzlauten aus. Eine Szene mit einem Puma und einer Plazenta gehört zu den komischsten des Festivals, dem bislang vielleicht ein wenig Glanz, aber nicht die Abwechslung fehlt.