Die reale Politik stellt die Partei auf harte Zerreißproben, Grundüberzeugungen stehen auf dem Spiel! Doch überwiegt der Wunsch nach Einheit.
Es ist kein großer Protest. Aber er ist laut. Rund 20 Leute stehen vor der Messehalle in Karlsruhe, sie rufen und singen, sie halten Plakate hoch. „Nein zur Festung Europa“, steht auf einem ihrer Banner, auf einem anderen: „Klima retten statt Krieg führen“. Es sind Sprüche, mit denen viele Grüne wohl selbst schon mal demonstriert haben. Jetzt protestiert man damit gegen sie, direkt vor den Türen ihres Parteitags, der seit Donnerstag in Karlsruhe stattfindet.
Wenn Grüne eine Entscheidung treffen, die gegen ihre eigenen Grundsätze geht, dann sagen sie gern: Wir haben uns das zugemutet. Sie mussten das im vergangenen Jahr sehr oft sagen. Als die Atomkraftwerke länger liefern als ausgemacht. Als sie die Abschaffung der Sektorziele im Klimaschutzgesetz abnickten. Oder als sie der restriktiven Reform des europäischen Asylsystems zustimmten – und weiteren Maßnahmen, um Migration zu begrenzen.
Zumutungen der Realpolitik
Zumutungen der Realpolitik
Und es ist nicht so, dass sich diese – wie sie die Grünen nennen würden – Zumutungen für die Partei als klarer Erfolg ausgezahlt hätten. Innerhalb der Ampelregierung gelten sie gleichermaßen als Bremser und Verlierer. Bei allen vier Landtagswahlen in diesem Jahr haben die Grünen Stimmen verloren. Zweimal sind sie sogar aus der Regierung geflogen. Und jetzt wankt auch noch der Haushalt und mit ihm viele klimapolitische Projekte. Manche Zumutungen sucht man sich nicht aus.
In dieser Stimmung kommen die Grünen nun für vier Tage zur Bundesdelegiertenkonferenz zusammen. Wie viel Pragmatismus erträgt diese Partei noch? Es gebe viel Unruhe, sagen die einen. Die Grünen stünden geschlossener zusammen denn je, behaupten die anderen. In Karlsruhe kann man versuchen herauszufinden, welche Ansicht denn nun stimmt. Aber die Entscheidung bleibt schwierig. Weil die Antwort nicht so klar ist wie die Frage.
Man kann ja erst mal bei den Zahlen anfangen. Diese zumindest sehen nicht schlecht aus auf diesem Parteitag. Am Freitag haben sich die Bundesvorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour erneut ins Amt wählen lassen. 82,3 Prozent der Delegierten wählten Lang, das ist mehr, als sie vor zwei Jahren bekam. Und Nouripour kam auf 79 Prozent, das ist immerhin fast so viel wie beim vorherigen Mal. Applaus im Stehen bekommen beide Vorsitzende für ihre Bewerbungsreden. Eine unzufriedene Partei sieht anders aus. Oder?
Das kommt darauf an, wen man fragt. Julian Pahlke zum Beispiel sagt: „In der Partei gibt es eine spürbare Enttäuschung.“ Pahlke ist Bundestagsabgeordneter aus Flensburg, 32 Jahre alt und zählt zum linken Parteiflügel – also dem Teil der Partei, dem zuletzt besonders viel zugemutet, vielleicht sogar abgenötigt wurde. Das gilt besonders für alle Entscheidungen, die den Migrationskurs der Partei betreffen. Pahlke kennt sich mit dem Thema besonders gut aus. Er war selber mal Seenotretter.
Giftiger Brief der Basis
Wie wichtig das Thema Asyl und Migration vielen in der Basis ist, kann man ahnen, wenn man sich die Entwicklung der Mitgliederzahlen bei den Grünen anschaut. Die legten 2016 plötzlich steil zu. Es war die Zeit der Migrationskrise, in der die Grünen besonders humanitäre Positionen bezogen. Der Migrationskurs ist das Thema, das die Grünen nun am ehesten spalten könnte.
Anfang November wandte sich die Basis der Partei mit einem offenen Brief an die Grünen-Spitzen. Mehr als 1200 Mitglieder haben den Brief unterschrieben. Sie klangen schwer enttäuscht. „Manchmal erscheint es uns, als ob die Grünen von einer Partei für echte Veränderung zu einer Werbeagentur für schlechte Kompromisse geworden sind“, steht in dem Schreiben. Das wiederum mutet wenig harmonisch an.
Und doch ist davon auf dem Parteitag nur wenig zu spüren. Natürlich gibt es Beiträge von unzufriedenen Mitgliedern. Da ist zum Beispiel Anne Rammell, Vorsitzende des Kreisverbandes Cloppenburg, die sagt: „Wir erkennen unsere Partei nicht wieder.“ Und: „Wir erwarten von unserer Parteispitze, von unseren Bundesvorsitzenden, dass sie Beschlüsse, die unsere Grundsätze aushöhlen, nicht mittragen.“ Aber die meisten Redner konzentrieren sich auf andere Themen.
Unter den Delegierten auf dem Parteitag ist auch Franziska Brantner. Brantner ist Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeswirtschaftsministerium und sitzt für den Wahlkreis Heidelberg im Bundestag. Sie ist 44 Jahre alt, zählt zum Realo-Flügel – also jener Bewegung in der Partei, die sich im Zweifel für den pragmatischen Weg entscheidet. Brantner schüttelt entschieden den Kopf, wenn man sie nach Unruhe oder gar Zerrissenheit innerhalb der Partei fragt. „Es gibt natürlich eine Unruhe im Land, die finden sie auch bei uns“, sagt Brantner. „Aber insgesamt habe ich das Gefühl, dass es bei uns gerade viel Ernsthaftigkeit gibt.“
In den Reden, die die Grünen hier halten, geht es oft um die Wirtschaft, um das, was damit zu tun hat: die Schuldenbremse, den Klimaschutz, die Transformation. Und es geht um Friedrich Merz. Seit er die Grünen zum Hauptgegner ausgerufen hat, scheinen sie ihn zu dem ihrigen gekürt zu haben. Omid Nouripour fängt damit am ersten Abend an. „Dieses Land braucht Herz statt Merz!“, ruft er in den Saal. Die Delegierten jubeln. Viele nehmen das Wortspiel in ihre Beiträge auf. Insgesamt verläuft die Debatte friedlich: keine Buhrufe – auch nicht, als Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann sagt, die Partei sei mit der Reform des europäischen Asylsystems auf dem richtigen Kurs. Das ist ein Affront gegen den linken Flügel. Der nimmt es still hin.
Wille zur Eintracht
Wille zur Eintracht
Für Parteispitzen wie Robert Habeck und Annalena Baerbock gibt es lauten Applaus. Als Annalena Baerbock hingegen spricht, wird es ganz still. Sie spricht über den Konflikt in Nahost, über die Folgen des Hamas-Angriffs auf Israel, über Familien, die davon betroffen sind. Es ist eine emotionale, fast pathetische Rede – aber auch eine mutige. Es fällt auf, dass es sehr still bleibt, während sie spricht. Und sie bekommt am Ende minutenlangen Applaus. Es ist der längste der ersten zwei Tage.
Da ist allerdings noch eine Debatte, die die Grünen in Karlsruhe noch vor sich haben. Und zwar am Samstagabend, spät, um 22 Uhr. Dann nämlich wollen die Delegierten über ihre Asyl- und Migrationspolitik streiten. Es gilt als sicher, dass es zu Abstimmungen kommen wird. Also: Dass es dabei um Fragen geht, bei der man partout keinen Konsens findet.
Ursprünglich war diese Debatte mal für den Donnerstagabend eingeplant. Dass sie nun erst am Samstag stattfindet, und zwar so spät, ärgert viele im linken Flügel. Sie befürchten, dass das Thema untergeht. Trotzdem hat niemand ernsthaft versucht, diesen Zeitplan zu kippen. Ja, es gibt Unruhe. Aber es überwiegt ganz offenbar der Wille, sich zusammenzureißen. Der laute Protest bleibt vor der Tür.