Ein Banksy-Wandbild in Dover thematisiert den EU-Austritt. Darin erkennen mittlerweile viele Briten ein klassisches Eigentor. Foto: AFP/GLYN KIRK

Zwei Jahre nach dem harten Brexit wird in Großbritannien das Wehklagen über den EU-Austritt immer lauter. Regierung und Opposition stellen sich aber gleichermaßen taub.

Unbarmherzig schafft sich die Realität Platz in diesem Winter in Großbritannien. Ständig melden sich große und kleine Unternehmer mit bitteren Klagen zu Wort. Weil die Grenzkontrollen und Handelsschranken zur EU immer mehr Ex- und Importeure zum Aufgeben zwingen. Geschäfte kollabieren. Absatzmärkte verschwinden. Hotels, Cafés, Wirtschaften finden ebenso schwer Personal wie Kliniken und Pflegeheime. Forschern fehlen die Mittel, und Musiker tun sich schwer, nach Europa zu kommen. Touristen müssen bald dafür zahlen, kontinentalen Boden zu betreten. Beim Sprung über den Kanal wird man ihnen – welche Demütigung – vom Herbst an Fingerabdrücke abnehmen an der Grenze zur EU.

Noch nicht einmal sieben Jahre ist es her, dass die Brexiteers den Wählern „ein goldenes Zeitalter“, eine Ära „nationaler Erneuerung“ versprachen. Nach dem britischen Austritt aus der EU werde man „wieder was gelten in der Welt“, versicherte damals Boris Johnson, der Chef-Brexiteer. Das nationale Gesundheitswesen werde erstarken, Schulklassen würden kleiner sein als zuvor und die Steuern sehr viel niedriger, gelobte Johnson beim Referendum 2016. Und als er 2019 als Premier in die Wahlen zog mit dem Schwur, den Brexit endlich „über die Bühne zu bringen“, sah er massive Investitionen des internationalen Kapitals in die britische Wirtschaft im „goldenen Morgen-Sonnenschein“. Liz Truss und Rishi Sunak, die voriges Jahr kurz nacheinander auf Johnson folgten, haben hartnäckig dieselbe Sprache gesprochen – obwohl sichtbar geworden ist, dass Johnsons „harter Brexit“ seinen Landsleuten wenig Sonnenschein bringt.

Mittlerweile zeigen die Umfragen, dass der Brexit für sechs von zehn Briten im Rückblick „die falsche Entscheidung“ war. Auch immer mehr Wähler, die 2016 für den Brexit stimmten, kommen jetzt zu diesem Schluss. 57 Prozent der Briten plädieren inzwischen schon für einen Wiederaufnahme-Antrag bei den ehemaligen Partnern, während nur noch 43 Prozent „draußen“ bleiben wollen. Bei den unter 24-Jährigen verlangen fast 80 Prozent eine Rückkehr in die EU.

Was nicht überrascht. Denn Finanzexperten, Wirtschaftsverbände und selbst neutrale Ämter nehmen längst kein Blatt mehr vor den Mund, was den Schaden betrifft, den die rabiate Abkoppelung von der EU in den letzten zwei Jahren angerichtet hat. Großbritannien ist der einzige G7-Staat, der 2022 nicht zur Vor-Covid-Stärke seiner Wirtschaft zurückzukehren vermochte. Der britische Rechnungshof hat den langfristigen Einbruch der Wirtschaftskraft durch den Brexit auf jährlich vier Prozent kalkuliert.

Dieselbe Behörde ist zum Schluss gekommen, dass der Brexit „einen beträchtlichen negativen Effekt für den britischen Handel“ gehabt hat. Das Handelsvolumen soll um 15 Prozent gesunken sein. Ganz ähnliche Klagen sind von der britischen Handelskammer zu hören. Und auch die Bank von England hält sich mit Kritik nicht mehr zurück. Ihr Direktor Andrew Bailey hat erklärt, der Brexit sei schuld an „einem langfristigen Niedergang der Produktivität um mehr als drei Prozent“. Das renommierte Institut für Finanzstudien (IFS) glaubt, dass der Brexit „ganz eindeutig ein ökonomisches Eigentor“ war.

Selbst die konservative Vorsitzende des Finanzausschusses im Unterhaus, Harriett Baldwin, kann dieser Tage beim besten Willen „keine Brexit-Dividende“ im Finanzbereich erkennen. Prominente Ökonomen wie Adam Posen finden, ihr Land habe „sich selbst den Handelskrieg erklärt“. Lord Wolfson, der Boss der Bekleidungsfirma Next und ursprünglich ein ausgesprochener Brexit-Befürworter, lamentiert wie viele andere Geschäftskollegen über den chronischen Mangel an ausländischen Arbeitskräften: „Es ist mit Sicherheit nicht der Brexit, den ich einmal wollte.“ Sehr viel weniger Touristen als früher kämen neuerdings nach London zum Einkaufen, klagt der Mulberry-Chef Thierry Andretta.

57 Prozent der Briten plädieren für Wiederaufnahme -Antrag

Und der frühere Tory-Vorsitzende William Hague, heute Lord Hague, hat den jüngsten spektakulären Kollaps des heimischen Auto-Batterie-Unternehmens Britishvolt dem Mangel an Zugang „zu einem großen Markt“ zugeschrieben und ihn als „Teil des Schadens“ bezeichnet, „der uns durch unseren Austritt aus der EU entstanden ist“. Noch im letzten Sommer hatten Mitglieder der Regierung Britishvolt als eine Brexit-Erfolgsgeschichte herausgestellt.

Nur sehr wenige Tory-Politiker wagen sich allerdings bisher offen zu solchen Fakten und zum Stimmungsumschwung in der Bevölkerung zu äußern. Parteispitze und Regierung beschwören weiter unbeirrt „all die Möglichkeiten“, die der Brexit dem Vereinigten Königreich ihrer Ansicht nach irgendwann eröffnen wird. Und um nur weiter den Glauben an die „nationale Erneuerung“ zu nähren, haben Brexit-Hardliner jetzt dank ihres ungebrochenen Einflusses in der konservativen Fraktion einen „Scheiterhaufen der EU-Gesetze“ anzuzünden begonnen, der der Welt britische Unabhängigkeit von Europa demonstrieren soll.

Mehr als 4000 während der EU-Mitgliedschaft übernommene Gesetze sollen nämlich nach dem Willen der Tory-Rechten noch in diesem Jahr gesichtet und bei Bedarf von der Regierung aus dem britischen Recht getilgt werden. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Umweltschutz-Maßnahmen, Verbraucherschutz-Vorschriften oder auch Arbeitnehmerrechte. Als eine „kostspielige Ablenkung“ von echten Problemen hat das Institute of Directors, der Verband britischer Geschäftsführer, die Aktion bezeichnet. Rishi Sunak jedoch hat es nicht gewagt, der Rechten in den Arm zu fallen. Bemerkenswerterweise stellt sich freilich nicht nur die Regierung, sondern auch die wichtigste Oppositionspartei taub für die Klagen der Wirtschaft und die wachsenden Zweifel einer Mehrheit der Wähler. Sir Keir Starmer, der Vorsitzende der Labour Party, hat die Losung ausgegeben, dass das B-Wort in den eigenen Reihen nicht ausgesprochen werden soll. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass Labour die im nächsten Jahr fälligen Unterhaus-Wahlen nur gewinnen kann, wenn die Partei die Pro-Brexit-Wähler aus der Arbeiterschaft wieder an sich bindet, die sie 2019 an die Torys verlor.

Labour Party will Brexit-Befürworter für sich gewinnen