Generationen von Schülern haben den „Faust“ durchgearbeitet – nun spielt er eine immer geringere Rolle. Foto: dpa/Nicolas Armer

Goethes „Faust“, das vielleicht berühmteste Werk der deutschen Literatur, wird immer seltener in der Schule behandelt. Ein Theaterexperte sieht „eine epochale „Faust“-Krise“.

„Es ist ein groß Ergetzen, sich in den Geist der Zeiten zu versetzen, zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht.“ Für Generationen deutscher Schüler führte kein Weg zum Abitur an ihm vorbei: Goethes „Faust“. Das wohl berühmteste Drama der deutschen Literaturgeschichte gehört zu den bekanntesten und meistzitierten Werken überhaupt und hat die Alltagssprache geprägt wie kaum ein zweites.

Wie lautet die Gretchenfrage („Wie hast du’s mit der Religion?“)? Was ist „des Pudels Kern“ (Mephisto)? Und wie war das mit mit dem besonderen Augenblick („Verweile doch, du bist schön!“)? Wie funktioniert die Unterhaltungsindustrie („In bunten Bildern wenig Klarheit, viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit, draus wird der beste Trank gebraut, der alle Welt erquickt und auferbaut“)?

Nur in wenigen Bundesländern noch Pflichtlektüre

All das weiß nur, wer wenigstens eine grobe Idee von dem hat, was in Johann Wolfgang von Goethes „Faust I“ (1808) steht. Doch die kulturelle Bedeutung des großen Werkes scheint zu schwinden. Der Deutsche Bühnenverein registriert ein geringeres Interesse am „Faust“ – und auch in der Schule verliert das Werk zunehmend an Bedeutung.

Nur in wenigen Bundesländern ist es heute noch Pflichtlektüre, wie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur ergeben hat. In Bayern muss es im neuen Schuljahr ab diesem September zum vorletzten Mal gelesen werden. Ab 2024/25 ist es keine Pflichtlektüre mehr, nachdem es das fast ein halbes Jahrhundert lang gewesen ist - zumindest im Deutsch-Leistungskurs.

Es ist nicht die erste „Faust“-Krise

Schon in der Spielzeit 2020/21 war der „Faust I“ nach Angaben des Deutschen Bühnenvereins „erstmals seit vielen Jahren nicht mehr an erster Stelle als meistinszeniertes Drama“. Nur zwei Neuinszenierungen des großen Dramas sind den Angaben zufolge in der kommenden Spielzeit an deutschen Bühnen geplant. „Das ist auffällig wenig“, sagt eine Sprecherin des Vereins.

„In den 1980er oder 90er Jahren fand sich das Stück des Öfteren gerade so unter den zehn meistgespielten Dramen, war also auch nicht ganz vorne“, sagt Detlev Baur, Chefredakteur der vom Bühnenverein herausgegebenen Zeitschrift „Die Deutsche Bühne“.

Büchners „Woyzeck“ steht nun ganz oben auf der Liste

Von einer „zyklischen „Faust“-Abkühlungsphase“ geht er dieses Mal allerdings nicht aus: „Ich vermute eher, dass es in Zukunft auf den Bühnen keine so große Rolle mehr spielen wird – schon weil es auch in den Schulen an Bedeutung einbüßt. Eigentlich ist der „Faust“ ja ein Lesedrama – und wer liest heute noch Stücke?“

Das Stück mit den meisten Inszenierungen wird Georg Büchners „Woyzeck“ sein, wie Baur für die im September erscheinende Ausgabe herausgefunden hat. „Verlierer Goethe“ heißt der Titel seines Artikels, in dem er von einer „epochalen „Faust“-Krise“ schreibt. Faust und sein sehr viel jüngeres Gretchen, das sei heute „vielleicht nicht ganz so brisant wie die soziale und psychische Deformation eines mittellosen Soldaten wie Woyzeck“, sagt Baur.

Auch Juli Zeh gehört zum literarischen Kanon

Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in Berlin hat Georg Büchners Sozialdrama „Woyzeck“ und Juli Zehs „Corpus Delicti“ auch für die kommenden drei Abiturjahrgänge als Lektüre festgelegt, die als bekannt vorausgesetzt werden sollte.

„Da haben sie bestimmt den falschen Text gestrichen“, sagt der Berliner Germanist Michael Jaeger, der das Buch „Goethes ,Faust‘: Das Drama der Moderne“ geschrieben hat.

„Es irrt der Mensch, so lang er strebt“, heißt es im Faust.

Kritiker fürchten

Jaeger kann die jüngste, bayerische Entscheidung zum Werk nicht verstehen: „Ausgerechnet der „Faust“ eignet sich ja besonders gut, die Themen von damals in die heutige Zeit zu übertragen.“ Frei nach dem Motto: „Ich bin’s, bin Faust, bin deinesgleichen.“

Er nennt es „besonders stupide, nun den womöglich letzten Text, der noch bei den meisten Leuten irgendwie im Kopf war, auch noch zu streichen“. Er zweifelt an, ob das Interesse an dem Stoff auch dann zurückgehen würde, „wenn man den jungen Menschen „Faust“ präsentiert und ihnen Zeit gibt, sich damit zu befassen“.

„Ein jeder lernt nur, was er lernen kann“, heißt es im „Faust“.

In Sachsen wird der „Faust“ in allen Schularten gelehrt

Eine unter den Kultusministerien der Länder ergab, dass die „Faust“-Lektüre am Gymnasium inzwischen eher die Ausnahme als die Regel ist.

Zu diesen Ausnahmen gehören Hessen, das Saarland sowie Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen, wo das Werk schon in der 10. Klasse drankommt, weil „wir die Bedeutung des Werkes als Kulturgut als so hoch ansehen, dass auch die Schülerinnen und Schüler der Oberschulen das Werk kennen sollten, nicht nur die Gymnasiasten“, wie ein Sprecher des sächsischen Kultusministeriums sagt.

In Niedersachsen ist es dagegen schon mindestens 40 Jahre lang keine Pflicht mehr, die Geschichte über Doktor Faust, seinen teuflischen Begleiter Mephisto und sein Gretchen gelesen zu haben.

Ist die literarische Überlieferung in Gefahr?

Germanist Jaeger sieht ein Problem „nicht nur auf den „Faust“ bezogen, sondern was unsere literarische Überlieferung angeht“. Er fürchtet, kulturelle Bezugsgrößen, mit denen ein Großteil der Bevölkerung etwas anfangen kann, könnten noch weiter verschwinden, wenn es keinerlei literarischen Kanon mehr gibt. „Das ist alles völlig beliebig geworden.“ Heute schon könnten viele mit den „Faust“-Zitaten, die er in Vorträgen anbringe, nichts mehr anfangen.

„Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus“, steht im „Faust“.

Da heißt es auch: „Zwar sind sie an das Beste nicht gewöhnt. Allein sie haben schrecklich viel gelesen.“