Sind bald seit 50 Jahren ein Paar: George Bailey und Albrecht Mayer leben im selben Mehrfamilienhaus, aber in getrennten Wohnungen. Foto: Licht// Ferdinando Iannone

Ballettchef John Cranko nannte ihn „Sunshine“. Tanzstar Friedemann Vogel sagt: „Die Welt wäre besser, würde es mehr Menschen wie ihn geben.“ George Bailey, ein Teil des Stuttgarter Ballettwunders, blickt im Opernhaus auf viel Glück seines 77-jährigen Lebens zurück.

Stuttgart - So war das schon früher im Ballettsaal. George Bailey kam immer als Erster zur Probe, setzte sich vor der vereinbarten Zeit ans Klavier und spielte die jeweiligen Lieblingslieder der Tänzerinnen und Tänzer, sobald diese erschienen. In der Stuttgarter Oper ist es am Samstag ein bisschen wie früher. Noch bevor die ersten Besucher zur Präsentation des Buches über das spannende Leben des langjährigen Korrepetitors das obere Foyer betreten, hat der 77-Jährige seinen Platz an den Tasten eingenommen. Immer wieder schenkt der US-Amerikaner seinen Wegbegleitern und Fans ein strahlendes Lächeln, von denen einige angesichts der Musik glauben, zu spät gekommen zu sein. Als Bailey seine frühere Chefin Marcia Haydée, 83, unter Mütze und Maske erkennt, unterbricht er sein Spiel und umarmt die Ballettlegende sehr herzlich.

Da trifft sich eine große Familie

Man spürt: Da trifft sich eine große Familie, die beim Ballett in fünf Jahrzehnten zusammengefunden hat. Intendant Tamas Detrich ist froh, dass die Präsentation der Biografie „Cranko, Haydée – und ich, George Bailey“ stattfinden kann. In der vierten Welle ist dies nicht selbstverständlich. Auch Choreologin Georgette Tsinguirides, die 93-jährige Grande Dame des Stuttgarter Balletts, ist gekommen – dreifach geimpft geht dies nun auch ohne Schnelltest. Autorin Susanne Wiedmann spricht auf der Foyerbühne mit dem „bunten Hund“ der Ballettfamilie, der es liebt, rote Schuhe zu tragen, und auch oberhalb der Fußlinie gern farbig dick aufträgt. Die extravagante Kleidung ist sein Statement für ein schönes Leben. Die Autorin liest aus ihrem Buch, der Pianist spielt, beide talken – und es gibt viel zu lachen.

Es geht auch um Rassismus und Homophobie

Das Leben des Optimisten aus Überzeugung bietet viel Stoff, überwiegend Schönes, aber auch ernste Themen wie Rassismus und Homophobie gehören dazu. Der 1944 im amerikanischen Denver geborene George Bailey landete im Oktober 1971, nachdem er seinen Militärdienst in Germany beendet hatte, durch die Verkettung von Zufällen genau dort mittendrin, wo das wichtigste Kapitel der deutschen Tanzgeschichte geschrieben wurde.

Bailey, der in den USA Musik studiert hatte, eröffnete nach seiner GI-Zeit in Heidelberg einen Jeansladen und lernte dabei Stuttgarter kennen. Die luden ihn zu einer Party bei einem Zahnarzt ein, wo sich Mitglieder des Balletts trafen. In der Wohnung stand ein Klavier, an das sich der Jeansverkäufer setzte. Alle waren begeistert. Einer schwärmte besonders – John Cranko.

„Ich wusste nicht, was ein Korrepetitor ist“

Der Ballettchef fragte den Pianisten, ob er nicht Korrepetitor bei ihm werden und von Heidelberg nach Stuttgart ziehen wolle. „Ich wusste nicht, was ein Korrepetitor ist“, erinnert sich George Bailey. 41 Jahre lang sollte er diesen Beruf ausüben – bis er sich 2013 im Alter von 69 Jahren in den Ruhestand verabschiedet hat. Mit dem Klavier oder dem Tonband begleitete der Strahlemann nicht nur Tänzerinnen und Tänzer bei Proben mit einer bis heute sprichwörtlichen Präzision. Er löste oft auch dank seines Humors und seiner Ruhe Spannungen auf, zu denen es kommt, wenn Künstlertemperamente aufeinanderprallen. Und er kannte – und kennt noch immer – die klassischen Ballettinszenierungen bis ins kleinste Detail.

Immer wieder durfte er auch auf die Bühne – etwa 1972 als Statist beim „Schwanensee“. Als Botschafter stolzierte Bailey in engen Hosen die Treppe herunter. „Später sagte man mir, was hast du für schöne Beine“, erzählt er. Keiner habe diesen Part seitdem so überzeugend gespielt, erzählt man sich in Ballettkreisen. Na gut, später wurde diese Nebenrolle ohne ihn ersatzlos gestrichen.

Jeder Tag ist für ihn “ein Geschenk“

Wie er es schafft, so viel gute Laune auszustrahlen? Auf die Frage von Susanne Wiedmann antwortet Bailey: „Jeder Tag ist ein Geschenk. Das Leben ist so kurz. Wer es nicht genießen kann, sollte gleich sterben.“ Solche Sätze kommen auch bei Jüngeren gut an. Die Jungen hören die Geschichten der Alten gern, und die Alten bleiben mit den Jungen jünger. Die Alten haben den Reichtum des Lebens erfahren und die Zumutungen. Die Jungen haben noch viele Träume zu entdecken und erkennen, dass Gespräche mit einem Wissenden sie weiterbringen können.

George und sein Albrecht sind seit fast 50 Jahren ein Paar

Eine Geschichte kommt immer wieder gut an: Im Sommer 1972 saß Bailey in der Ballettpause auf den Stufen vor der Oper. Ein ebenfalls junger Mann schob sein Rad am Eckensee vorbei. Crankos „Sunshine“ sprach den Radler an, der ihm gefiel. Zur zweiten Hälfte kehrte er nicht in die Oper zurück. Stattdessen schloss sich der Pianist dem Radfahrer an – bis heute. 2022 feiern die beiden ihr 50-Jähriges. Albrecht Mayer, der bis zur Rente im Kultusministerium gearbeitet hat, ist, wie sein Lebensgefährte sagt, „der ordnende Ausgleich in meinem Künstlerchaos“.

Das Geheimrezept ihrer langen Liebe, die sie in schwulenfeindlichen Zeiten in den 1970ern noch verstecken mussten: Beide wohnen zwar im selben Mehrfamilienhaus im dritten Stock, aber jeder lebt in seiner eigenen Wohnung. Dass sich in Stuttgart früher als andernorts liberales Denken durchgesetzt hat, war auch ein Verdienst des Balletts und ihres 1973 viel zu früh verstorbenen Chefs John Cranko. Die Stadt liebte den charismatischen, experimentierfreudigen und offen schwul lebenden Vater des Ballettwunders. Bis heute liebt die Stadt Künstler, die sich dem Tanz mit Haut und Haar hingeben, die Emotionen in extremer Form ausleben und diese weitergeben. Und auch bei der Buchpräsentation im Opernhaus zeigt sich: John Cranko ist der Vater einer großen Familie, deren Liebe zum Ballett niemals endet und die diese immer weitergibt.