Grenzenloser Jubel bei den Fans im Restaurant. Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Diese Nacht bleibt den Italienern in Erinnerung. Wir haben das Stuttgarter Restaurant Mezzogiorno während des EM-Finales gegen England besucht – und das Gefühlschaos der Fans hautnah miterlebt.

Stuttgart - Die italienische Hymne spielt lautstark aus den Boxen im Stuttgarter Restaurant Mezzogiorno, darauf erfolgt der Queen Kultsong „We are the Champions“. Italien hat gerade das Elfmeterschießen gewonnen – ist nach 53 Jahren Pause endlich wieder Europameister geworden. Auch Silvano Pistis ist ergriffen. Er schwenkt die italienische Fahne, auf seinem bloßen Haupthaar trägt er eine Irokesen-Perücke in den Nationalfarben. „Wir standen oft im Finale, aber jetzt hat es endlich wieder geklappt. Das ist Balsam für die italienische Seele“, sagt der Stuttgarter. Er spricht auf das Corona gebeutelte Land an.

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Zunächst wird eher zurückhaltend Fußball geschaut im Mezzogiorno. 100 Gäste sind zugelassen, etwa die Hälfte davon sind Italiener, bei den deutschen Gästen sind die meisten Sympathien auch auf Seiten der Tifosi. Eher dezent singen einige Besucher die italienische Hymne mit, einige tragen die typische blauen Trikots, eine Frau hat sich extra ein langes Kleid in den Landesfarben genäht.

Leonardo Bonucci erzielt den erlösenden Ausgleich

Das fröhliche Il Canto degli Italiani ist kaum verklungen, da gab es schon den ersten Dämpfer für die Fans der Azzurri, denn die Engländer benötigten gerade mal drei Minuten, nach einem Dropkick durch Luke Shaw die Führung zu erzielen. Plötzlich war es still im Ristorante, die Kellner schüttelten die Köpfe, dem einen oder anderen bleibt der Bissen der Holzofen-Pizza im Hals stecken. Ein Schockmoment - der vom heiligen Rasen Wembleys auch in das Stuttgarter Restaurant schwappt.

Doch die Italiener steigern sich, und auch die Gäste im Mezzogiorno setzen immer wieder zum Torjubel an. Sie müssen warten bis um 22.26 Uhr, als Leonardo Bonucci das erlösende 1:1 erzielt. Da gibt das Publikum im Ristorante die bislang vornehme Zurückhaltung auf: eine große Fahne wird geschwungen, aus den Lautsprecherboxen ertönt der Titel Seven Nations Army von den White Stripes - einen Titel, den die Italiener nach dem WM-Gewinn 2006 in Deutschland zu ihrem Lied gemacht haben.

Es ist ein italienischer Sommer

Dann Verlängerung. Koch Jacopo Bigi hält es auch nicht mehr in der Küche. Dort gibt es keinen Fernseher. Es wird ein längerer Abstecher, denn es geht auch noch ins Elfmeterschießen. Er ist Fan von Juventus Turin – sein Lieblingsspieler Federico Chiesa ist zu diesem Zeitpunkt bereits verletzt ausgewechselt. Es sind die andere Italiener, die es vom Elfmeterpunkt aus richten. Der Calcio, wie die Italiener zum Fußball sagen, ist hier Staatsreligion erzählt Bigi, der aus Umbrien stammt. Und er berichtet vom wohl dramatischsten Jahr von Italiens jüngeren Geschichte mit den vielen Corona Toten rund um Bergamo.

Dass es Italiener waren, die auf die Idee kamen, sich gegenseitig Mut zu machen beim gemeinsamen Singen am Fenster und auf den Balkonen im Lockdown. Und er zitiert Italiens Nationaltrainer Roberto Mancini: „Wir spielen mit Spaß, damit die Italiener Spaß haben. Sie haben es verdient, nach all dem Leid.“ Der Rest ist Hupen, Autokorso, italienische Fahnen flattern draußen im warmen Wind. Diese Stuttgarter Nacht gehört wieder den Italienern. Es ist und bleibt „Un estate italiana“, ein italienischer Sommer.