„Es war eine Tortur für die uns anvertrauten Menschen, als wir sie hierher bringen mussten“, sagt Alla Malaytska im Keller. Foto: Till Mayer

Wie die 56-jährige Ärztin Alla Malaytska ein Krankenhaus mitten im umkämpften Cherson in der Ostukraine führt – zeitweise von einer Gartenlaube aus.

Ein dunkles Grollen ist zu hören. In der Ferne donnert die Artillerie. Immer wieder dieses furchterregende Grollen, die Explosionen. Alla Malaytska blickt kaum auf. Im Fensterrahmen hinter ihrem Schreibtisch stapeln sich Sandsäcke nach oben, dazu hängt noch eine schwere Decke vor dem Fensterglas. Griffbereit liegt eine schusssichere Weste nahe dem Schreibtisch. So sieht das Büro einer Klinikchefin in der Frontstadt Cherson aus.

Das „Städtische klinische Krankenhaus benannt nach Ye. Karabelesh“ in Cherson hat einen sperrigen Namen und in seiner Geschichte zwei Weltkriege überstanden. Das stolze Hauptgebäude aus dem Jahr 1914 steht an der schnurgeraden Hauptmagistrale der Stadt. Die breite Straße führt direkt zum Fluss Dnjepr. Am anderen Ufer ist Niemandsland. Dann kommen schon die russischen Stellungen. Die Panzer, Grad-Raketenwerfer und Haubitzen der Invasionsarmee, deren Geschosse immer wieder in der Stadt einschlagen, stehen nur wenige Kilometer entfernt.

Cherson steht unter regelmäßigem Beschuss

Für Alla Malaytska ist seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn des großflächigen Angriffs Russlands auf sein ungleich kleineres Nachbarland Ukraine, nichts, aber auch gar nichts mehr so, wie es einmal war. „Die ersten Tage, als die Invasion begann, waren ein Albtraum. Wir mussten bei Alarm mit allen Patienten in den Keller fliehen“, sagt die 56-Jährige. Dieser Keller wurde zu Sowjetzeiten als mächtiger Bunker ausgebaut. Eine stählerne und rostübersäte Schleusentür verschließt ihn. Die Hochbetten aus groben Holzrahmen reihen sich im dämmrigen Licht aneinander. Matratzen und Decken liegen bereit. „Hoffentlich wird es nicht mehr nötig, dass wir jemals wieder hierher flüchten müssen“, sagt Alla Malaytska.

Raketeneinschlag in Mutter-Kind-Abteilung

Cherson steht unter regelmäßigem Beschuss. In einer anderen Klinik schlug jüngst eine Rakete in der Mutter-Kind-Abteilung ein. Auch ein anderes Gebäude eines weiteren Krankenhauses in der Stadt wird getroffen. Eine Krankenschwester wird schwer verletzt. „150 Fenster sind in unseren Gebäuden durch Druckwellen von Explosionen zu Bruch gegangen“, erzählt Malaytska. Vor wenigen Tagen schlug eine Grad-Rakete ins Dach. „Schon repariert“, sagt sie stolz. In die Fensterrahmen sind jetzt Sperrholzplatten genagelt oder neues Glas eingepasst. Mehr als 1000 Krankenhäuser und gesundheitliche Einrichtungen wurden seit der Invasion in der Ukraine beschädigt, an die 200 sind völlig zerstört worden.

Alla Malaytska führt in die Unterwelt der Klinik. Die Treppen in den Keller sind kaum 1,50 Meter breit. „Es war eine Tortur für die uns anvertrauten Menschen, als wir sie in den Keller bringen mussten. Frisch Operierte, Schlaganfallpatienten– wir haben hier unten Menschen reanimieren müssen, für die der Transport in den Bunker zu kraftzehrend war“, fügt sie hinzu.

Dann berichtet die Medizinerin über den Vormarsch der russischen Truppen Ende Februar, Anfang März 2022. „Viele Menschen in Cherson flohen natürlich. Auch Mitglieder unseres 1000-köpfigen Teams, darunter 40 Prozent unserer Spezialisten, bis zu 20 Prozent des weiteren Personals. Gerade die Spezialisten fehlen uns heute. Seit Beginn der Invasion können wir nur noch unaufschiebbare Operationen vornehmen“, sagt die Internistin.

„Es gab viele Schikanen von russischer Seite“

Zwar nimmt die Anzahl der Eingriffe ab. Im umkämpften Cherson sind weniger als 20 Prozent der Menschen geblieben. Das bedeutet natürlich auch einen Patientenrückgang. „Aber deswegen brauchen wir trotzdem den ausgebildeten Chirurgen. Sonst sind keine Operationen möglich“, erklärt Malaytska. Auf viele ukrainische Ärztinnen und Ärzte kommt zudem die Behandlung von ungewohnten Kriegsverletzungen hinzu: schwere Verbrennungen durch Explosionen, Splitter, die Knochen und Gewebe zerfetzen, Schussverletzungen. „Anfang März 2022 übernahmen dann die russischen Truppen die Stadt. Auch bei uns im Krankenhaus tauchten bald bewaffnete Soldaten auf“, berichtet Alla Malaytska. „Vom Prinzip her haben sie sich einfach nicht um uns gekümmert. Die Gehälter kamen weiter aus der Ukraine, Medikamente lieferten uns Freiwillige aus dem unbesetzten Gebiet. Das ging bis in den Mai so. Es gab viele Schikanen von russischer Seite, aber sie ließen es zumindest zu.“ Dann versiegte diese Quelle, die russischen Streitkräfte erlaubten keine Passage mehr. „Aber wir konnten in dieser Zeit unsere Medikamentenvorräte auffüllen.“

Nahe dem Krankenhaus nutzte die russische Armee ein Gebäude für ihre Kommandostrukturen. Und erhielt einen Treffer von der ukrainischen Armee. „Das zerstörte Gebäude konnte man aus der Abteilung für Schlaganfallpatienten sehen. Ein Mitglied des Pflegeteams machte aus dem Fenster ein Foto und postete es auf einem Telegram-Kanal“, so die 56-Jährige. Kurz darauf seien acht schwer bewaffnete Soldaten in das Krankenhaus gestürmt. Schnell hatten sie ausfindig gemacht, von wo aus das Foto gemacht wurde. „Sie polterten in die Abteilung, zwangen die Schlaganfallpatienten, ihre Mobiltelefone zu zeigen. Das waren Menschen, die kaum reden konnten, schwere Lähmungen hatten und bettlägerig waren. Keiner wäre ganz offensichtlich in der Lage gewesen, das Foto zu machen. Es war ein Schock für unsere Patientinnen und Patienten und mich“, so die Ärztin. „Die Soldaten zwangen mich dann, den Dienstplan offenzulegen.“ Der Kollege wurde verhaftet.

Alla Malaytska führte praktisch das Krankenhaus von einer Gartenlaube aus

Dann kam das Pseudoreferendum, das den Anschluss von Cherson an Russland propagierte. Schon zuvor wurde die Eingliederung der Klinik in das russische Gesundheitssystem angekündigt. „Ich habe gekündigt. Die russischen Behörden wussten natürlich, warum. Vier Offiziere drohten mir. Ich habe eine ordentliche Übergabe gemacht und bin untergetaucht“, berichtet sie.

Auf der anderen Seite des Flusses besitzen Alla Malaytska und ihr Mann, er ist auch Arzt, eine Datscha im Grünen. Von dort aus hielt sie online die Kontakte zu den ukrainischen Behörden und auch zu ihrem Team. Alla Malaytska führte praktisch das Krankenhaus von einer Gartenlaube aus. „Vorbei an meiner Nachfolgerin, die sich aufseiten der Russen geschlagen hat. Das hat mir persönlich wehgetan. Ich hatte ihr immer vertraut.“ Am 11. November verschwanden die russischen Besatzer schlagartig. Nur Alla Malaytska konnte nicht in die befreite Stadt zurückkehren. Sie befand sich auf der falschen Seite des Flusses. Eine Odyssee zurück nach Cherson durch russisch kontrolliertes Gebiet, über die Türkei, Griechenland, Bulgarien und Rumänien folgte. „Tausende Kilometer, um dann keine zehn Kilometer vom Ausgangspunkt entfernt anzukommen.“

Die Krankenhauschefin führt durch den Hauptbau. Hier hat der Krieg keine Spuren hinterlassen. „Ich erzähle so viel vom Krieg. Dabei sind wir im Gesundheitssystem inmitten einer wichtigen Reform, um das alte ineffiziente System umzubauen. Faire Gehälter statt Korruption, bessere Ausbildung des Personals, mehr Prävention. Schluss mit der Korruption bei der Medikamentenbeschaffung. Vor der Invasion konnte einiges in unserer Klinik investiert werden. Aber es ist noch ein langer Weg. Durch Bomben lassen wir uns aber nicht aufhalten“, erklärt die Klinikchefin.

Zwei Stockwerke höher sitzt Olena. Die 43-Jährige leidet an Blutarmut. Regelmäßig unterzieht sie sich einer Bluttransfusion in der Klinik. „Sie sind überlebenswichtig für mich“, erzählt sie. „Mein Vater hatte einen schweren Schlaganfall. Er war auch hier zur Behandlung. Jetzt pflege ich ihn zu Hause“, sagt sie. „Dass wir weiter im Krankenhaus behandelt werden, gibt uns viel Sicherheit. Selbst in den dunkelsten Tagen fand und findet das medizinische Personal ein Lächeln für uns Patienten.“