Und? Beide gleich liebenswert? Foto: Patrick Pleul/dpa

Kaum einer gibt es zu, doch fast alle Eltern mit mehr als einem Kind fühlen sich einem der Kinder besonders zugeneigt. Warum das so ist – und wann die Kinder darunter leiden können.

Geburtsvorbereitungskurs für Mehrgebärende, erste Stunde. Eine Frage, die alle Teilnehmerinnen umtreibt: „Werde ich mein zweites Kind so lieben können wie das erste?“ Die Hebamme beruhigt, die Mutterliebe stelle sich spätestens mit der Geburt ein, man hätte sich beim ersten Kind ja vorher auch nicht vorstellen können, wie stark man für das Baby empfinden könne.

Mütter und Väter haben sehr wohl Präferenzen

Fragt man Mehrfachmütter Jahre später danach, ob sie ein Lieblingskind haben, weisen die meisten das empört zurück. „In unserer Gesellschaft gilt das Bild: Gute Eltern behandeln ihre Kinder gleich, da ist es ein Tabu, ein Lieblingskind zu haben“, sagt Familienforscher Hartmut Kasten. Er sagt aber auch: „Vorübergehend oder phasenweise haben nahezu alle Eltern ein Lieblingskind, auch die, die es bestreiten.“

Amerikanische Studien der Soziologin Jill Suitor haben gezeigt, dass nach einigem Zögern 70 Prozent der Mütter sich auf ein Kind festlegen können, dem sie sich emotional näher fühlen. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, auf ein Kind besonders stolz zu sein. Die Zahlen bei Vätern sind ähnlich.

Hartmut Kasten hat viel zum Thema Geschwisterbeziehungen und Lieblingskind geforscht. Ihn wundert es nicht, dass Eltern einzelne Kinder vorziehen. Denn es ist nun mal so: Aufgrund ihres Altersunterschiedes haben Geschwister verschiedene Bedürfnisse.

Negativer Einfluss aufs Kind?

Hinzu kommen Unterschiede bei Geschlecht, Charakter und Interessen. Und je nachdem, wo die Schnittmengen zu Vater oder Mutter sind, wirkt sich das auf die Enge der Beziehung aus.

„Meist ist es so, dass sich Eltern phasenweise mal dem einen oder mal dem anderen Kind näher fühlen“, sagt Hartmut Kasten. Das sei nicht weiter tragisch. Selbst wenn ein Elternteil dauerhaft zu einem und das andere Elternteil dauerhaft einem anderen Kind eine engere Beziehung hätte, müsse das die kindliche Entwicklung nicht negativ beeinflussen. „Wichtig ist nur, dass jedes Kind wahrgenommen wird.“

Genau das sei aber auch nicht in allen Familien der Fall, sagt Kasten. Er schätzt, dass in etwa zehn Prozent der Familien ein Kind dauerhaft bevorzugt wird – und zwar nicht nur von beiden Eltern, sondern auch von Großeltern oder dem sozialen Umfeld.

Wie wirken sich Präferenzen von Eltern langfristig aus?

Die Gründe dafür sind vielfältig: Vielleicht ist ein solches Kind besonders attraktiv, hat ein besonderes Talent oder braucht aufgrund einer Krankheit besondere Aufmerksamkeit. „Außerdem haben Eltern bestimmte Vorstellungen und Erwartungen an ihr Kind. Wenn diese der Realität nicht entsprechen, kann es sein, dass dieses Kind benachteiligt wird“, sagt Martina Stotz, Familienberaterin, die ihre Doktorarbeit zum Thema Lieblingskinder geschrieben hat.

Kinder, die in ihrer Familie dauerhaft nicht bevorzugt wurden, haben daran ein Leben lang zu knabbern „Sie fühlen sich weniger geliebt, haben kein gutes Selbstwertgefühl und können sogar suizidale Tendenzen entwickeln“, sagt Hartmut Kasten. Vor allem wirkt sich das aber nicht nur negativ auf die Beziehung zu den Eltern aus – sondern auch auf die zu den Geschwistern.

Damit es nicht so weit kommt, hilft es, wenn Eltern bewusst auch mal Zeit mit nur einem ihrer Kinder verbringen. „Es geht dabei aber nie darum, dass man alle Kinder immer gleich behandeln muss, das ist Unsinn. Wichtig ist, dass die Kinder sich fair und gerecht behandelt fühlen“, sagt Hartmut Kasten.