Der Hirnforscher Manfred Spitzer sieht digitales Lernen kritisch. Foto: picture alliance / /Hendrik Schmidt

Der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer warnt davor, dass im Lockdown irreparable Defizite etwa beim Spracherwerb entstehen.

Ulm - Was in einem bestimmten Alter versäumt wird, könnten Kinder mitunter nur schwer später nachholen. Das sagt der Hirnforscher Manfred Spitzer unserer Zeitung und sieht längerfristige Kita- und Schulschließungen deshalb kritisch. So seien Kitas und Schulen Orte, an denen Kinder Essenzielles voneinander lernen. „Der eine macht etwas vor und erklärt dabei, wie es geht, der andere macht es nach, wird vielleicht noch ein paar Mal korrigiert und schon kann er es auch. Schneller geht Lernen nicht!“, sagt Spitzer, der als Neurowissenschaftler und Psychiater an der Universität Ulm forscht und mit Büchern über kindliches Lernen bekannt geworden ist. Vor allem für den Spracherwerb sei der Dialog mit anderen Kindern in Kitas und Schulen unerlässlich, ebenso wie die Geschichten und Bücher, die Kinder dort erzählt und vorgelesen bekämen.

„Bis ins dritte Lebensjahr hinein lernen die Sprachzentren die elementaren Laute, Wörter und Regeln der Sprache, in den Jahren danach vor allem noch Wörter. Dazu braucht es sehr viel Sprachinput“, so Spitzer. Ein Input, den nicht alle Eltern ihren Kindern bieten können, sagt der Experte. So hätten Studien ergeben, dass Kinder aus unteren sozialen Schichten bis zum Schuleintritt oft weniger als zehn Millionen Wörter gehört hätten, Oberschichtkinder hingegen bis zu 40 Millionen Wörter. Falle der Kindergarten als Ort der Sprachvermittlung aus, drohe diese Schere noch weiter auseinander zu gehen mit den entsprechenden Folgen etwa für den schulischen Erfolg.

Im Miteinander lernen kleine Kinder Mitgefühl

Ein ebenfalls wichtiger neuronaler Entwicklungsschritt im Vorschulbereich seien die Verbindungen zwischen den Sprachzentren und den Sehzentren, die etwa im fünften und sechsten Lebensjahr ausgebildet würden. „Aber nur dann, wenn diese Zentren viel zusammenarbeiten, wie beispielsweise beim bildhaften Vorstellen der Inhalte vorgelesener Geschichten. Dann reden diese Zentren gewissermaßen ständig miteinander – und genau dadurch entstehen die Verbindungen zwischen ihnen“, so der Hirnforscher. Auch dabei spielten Kindergärten eine entscheidende Rolle ebenso wie beim Lernen von Miteinander und Mitgefühl.

Die Möglichkeiten digitalen Lernens sieht Spitzer begrenzt, vor allem bei jüngeren Kindern, denn diese hätten „noch nicht das funktionierende Frontalhirn, das man für eine lange Selbststeuerung der Aufmerksamkeit braucht“. Auch könne Fernunterricht nicht zur „Persönlichkeitsbildung“ beitragen. Das jetzt Versäumte könnten Kinder auch nicht so einfach später nachholen, weil sich die Gehirne von Kindern ständig weiter entwickelten. „Genau deswegen ist es wichtig, dass das Lernen nicht für längere Zeit ausfällt. Und weil es hierfür guten Unterricht und Lehrerinnen und Lehrer braucht, ist es sehr wichtig, dass die Schulen so bald es möglich ist wieder aufmachen.“

Entwicklungspsychologin

Auch die Entwicklungspsychologin Heike M. Buhl von der Universität Paderborn sieht das so genannte „soziale Lernen“ in Zeiten von Kita- und Schulschließungen gefährdet. In Kindergärten und Schulen lernten Kinder unter anderem, sich in eine Gruppe einzufügen, die eigenen Bedürfnisse, aber auch die anderer zu erkennen. Im Gegensatz zu Spitzer glaubt sie allerdings schon, dass solche Aspekte auch in digitalen Formaten gelebt werden können, etwa durch virtuelle Arbeitsgruppen oder spielerische digitale Formate.

Um solche Angebote zu machen, müssten sich Lehrerinnen und Lehrer allerdings erst einmal im Umgang mit den digitalen Tools sicher fühlen, so Buhl. Aber vielen seien gerade damit beschäftigt, überhaupt Online-Unterricht möglich zu machen.

Zur Frage möglicher Defizite sagte die Forscherin: „Je länger kein regelmäßiger Unterricht stattfindet, sei es in Präsenz oder im Fernlernen, desto größer ist die Gefahr, dass Kompetenzen weniger gut aufgebaut werden können.“ Vor allem bei Kindern, deren Elternhaus nicht beim Lernen helfen könne.