Ulrike Schneck hat beruflich jahrelange Erfahrung mit dem Thema Trauma gesammelt. Foto: Sebastian Xanke

Ein Großteil geflüchteter Menschen muss ohne psychologische Betreuung auskommen. Im Interview schildert die Psychologin Ulrike Schneck die derzeitige Situation der Flüchtlinge bei Griechenland und beklagt massive Hindernisse bei der Behandlung von Betroffenen.

Stuttgart - Ulrike Schneck ist Diplom-Psychologin und fachliche Leiterin des Refugio Stuttgart. Der Verein bietet Geflüchteten psychosoziale Unterstützung an. Schneck beschäftigt sich bereits seit längerer Zeit mit dem Thema Trauma. 14 Jahre hat sie eine Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt im Zollernalbkreis geleitet. Seit 2014 ist sie hauptamtlich bei Refugio tätig.

Frau Schneck, an der griechischen EU-Außengrenze harren tausende Flüchtlinge, die sich in Europa ein besseres, sicheres Leben erhoffen. Sie werden aber nicht durchgelassen. Was macht das mit den Menschen?

Viele der Geflüchteten haben bereits lange unter schwierigen Bedingungen in der Türkei gelebt. Bei ihnen kann es zu einer sequenziellen Traumatisierung kommen – weil sie bereits von einer traumatischen oder extremen Situation aus dem Herkunftsland geflohen sind. Und dann kommen sie in eine andere, auch nicht wirklich sichere Umgebung. Stattdessen leiden die Betroffenen weiter unter schweren Belastungen, wie zum Beispiel, dass sie keinen sicheren Ort zum Leben haben, eventuell die Familie nicht ernähren können oder nicht wissen, ob sie zurückgeschickt werden. Und das kann eine zusätzliche Traumatisierung sein.

Verspüren die Menschen noch Hoffnung?

Die Perspektivlosigkeit ist natürlich sehr schwierig. Gar keine Hoffnung mehr zu haben, ist sehr schädigend für den Menschen. Selbst, wenn ganz viele schlimme Dinge passiert sind: Solange die Menschen noch Hoffnung haben, schaffen sie auch einen nächsten Schritt. Aber wenn die Hoffnung fehlt und eine Desillusionierung einsetzt, dann sich gibt der Mensch auf. Und dann wird auch ein therapeutisches Ansetzen immer schwieriger.

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Zu dem Thema gab es kürzlich mehrere Berichte über Flüchtlingskinder in Lagern, die eine Art Apathie entwickelt haben.

Genau, bei Kindern ist das sehr greifbar, weil es sich auch in einem körperlichen Zustand äußert. Bei Erwachsenen wirkt sich das ebenfalls aus, aber sie funktionieren meistens noch irgendwie. Wir bei Refugio sehen oft Menschen, die in einem solchen Zustand sind. Zum Beispiel, weil sie selbst in Deutschland jahrelange Verwaltungsgerichtsprozesse durchleben und weiter in Unsicherheit bleiben. Das ist unheimlich schädigend – immer weiter, bis es chronisch und möglicherweise nicht mehr heilbar ist.

Wie begegnen Sie dem aus psychotherapeutischer Perspektive?

Wir unterscheiden zwischen Menschen, die in einer akuten psychischen Krise zu uns kommen und einer Psychotherapie. Viele Menschen, die zu uns kommen, gehören in die erste Kategorie. Sie brauchen erst einmal eine psychologische Stabilisierung. Wir nennen das eine Krisenintervention. Dabei geht es um Basisdinge, wie allgemeine Sortierung, ihre rechtliche Situation und Gesundheit.

Und worum geht es bei der Psychotherapie?

Das ist mehr die ruhige Aufarbeitung des Vergangenen. Man muss davon ausgehen, dass viele Menschen, die an den Grenzen ausharren, bereits schlimme Dinge in ihrer Vergangenheit erlebt haben. Wir wissen das aus Befragungen von Geflüchteten und einer guten Studienlage zu dem Thema. Demnach leiden 30 bis 40 Prozent der Flüchtlinge an einer psychischen Erkrankung. 55 Prozent der erwachsenen Geflüchteten sind selbst Opfer von Gewalt geworden, 43 Prozent wurden gefoltert. Das sind enorm hohe Zahlen von Gewalterfahrungen, die die Menschen schon in den Herkunftsländern aber auch auf den Fluchtwegen gemacht haben.

Vor Kurzem haben Sie zusammen mit der baden-württembergischen Landespsychotherapeutenkammer beklagt, dass die Behandlung von traumatisierten Geflüchteten nur schwer bis gar nicht möglich ist. Warum?

Da geht es um das Thema der Sprachmittlung. Wir sind seit Jahren überlaufen, unter anderem weil wir mit qualifizierten Sprachmittlern arbeiten, die wir über Projektmittel und Spendengelder finanzieren. Das ist im normalen Gesundheitssystem nicht gegeben. Für die Sprachmittlung gibt es keine Kostenübernahme von Krankenkassen oder sonstigen Systemen. Und das hat die Wirkung, dass die Menschen unbehandelt bleiben.

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Und die Folge davon?

Die psychische Erkrankung der Betroffenen besteht fort und verschlimmert sich unter Umständen etwa in Richtung Depressionen. Dadurch ist natürlich auch die Integration schwieriger, weil die Menschen nicht in der Lage sind, richtig zu arbeiten, weil sie sich nicht konzentrieren oder schlafen können. Außerdem finde ich, dass wir angesichts der Menschenrechtsverletzungen, die die Menschen in ihren Herkunftsländern erlebt haben, aus ethischen Gründen zur Hilfe verpflichtet sind. Genau wie die Menschen, die eine schwere körperliche Verletzung erlitten haben, hier behandelt werden sollten, gilt das auch für schwere psychische Erkrankungen.

Wie könnte eine Lösung aussehen?

Eine Lösung ist kurzfristig nicht in Sicht, das muss man ganz klar sagen. Es bräuchte unter anderem eine bundesweite Regelung für die Sprachmittlung in der kassenfinanzierten Therapie, sodass die Menschen nicht selbst ihren Dolmetscher bezahlen müssen. Aber das dauert. Deshalb treten wir an das Land Baden-Württemberg heran und fordern eine finanzielle Zwischenlösung. Menschen, die jetzt eine akute Behandlung brauchen, können wir ja nicht einfach sagen, dass sie warten sollen. Und wir haben immer weitaus zu viele Anfragen, wir brauchen die Unterstützung von niedergelassenen Therapeuten.