Martina Schäfer mit ihren Eltern bei einer Reise an die Mosel Foto: Privat/Sandra Markert

Eltern und Kindern bleiben so viele gemeinsame Lebensjahre wie nie zuvor. Das bietet viele Chancen – wenn man es schafft, alte Rollenmuster hinter sich zu lassen.

„Dann fahre eben ich.“ Als Martina Schäfers Eltern vor einigen Jahren erwähnten, dass sie den geliebten Urlaub in den Bergen jetzt streichen würden wegen der langen Anreise, bot sie sich als Chauffeurin und Reisebegleitung an. Mit 51 Jahren fuhr sie plötzlich wieder mit den über 80-jährigen Eltern nach Südtirol oder ins Salzburger Land. Ein bisschen wie früher als Kind. Aber eben mit vertauschten Rollen.

Denn jetzt waren es nicht mehr die Eltern, sondern Martina Schäfer, die am Steuer saß, die sich um die Unterkunft kümmerte und sich überlegte, welche Wanderungen gut machbar wären. Die 51-jährige Berlinerin hat die Reisen als Chance gesehen, noch einmal mehr Zeit mit den Eltern zu verbringen, die im Kölner Umland leben.

Neue gemeinsame Erlebnisse sammeln, statt immer nur in den Erinnerungen zu schwelgen. „Spätestens als mein Vater jetzt im Januar gestorben ist, wurde mir klar, wie gut und wertvoll diese Urlaube waren“, sagt Martina Schäfer, die unter anderem als Reisebloggerin arbeitet.

Rund 60 gemeinsame Jahre

Eltern und Kindern bleibt heute in den meisten Fällen so viel gemeinsame Lebenszeit wie nie zuvor. Rund 60 Jahre erleben sie zusammen. Noch vor 100 Jahren blieben den Vätern lediglich 20, den Müttern im Schnitt 40 gemeinsame Lebensjahre. Was aber fängt man an mit dieser langen Zeit? Und wie können sich Kinder abnabeln, obwohl sie heute oft schon selbst im Rentenalter sind, wenn die eigenen Eltern sterben?

Die Psychologin Anne Otto hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Für immer Kind? Wie die Beziehung zu unseren Eltern erwachsen wird“. Sie hat dafür viele Gespräche mit erwachsenen Kindern geführt. Ein Klassiker dabei: Die Tochter zieht mit ihrer Familie zurück ins Elternhaus. Beide Seiten versprechen sich davon Unterstützung, verfallen aber sofort wieder in alte Rollen.

„Kinder haben es heute schwerer, sich von den eigenen Eltern abzunabeln“, sagt Otto. Früher sei das automatisch passiert, durch einen vergleichsweise frühen Tod der Eltern, der die Kinder zur verantwortlichen Generation machte. „Heute sind manche Eltern mit 70 noch fitter als ihre Kinder oder haben größere finanzielle Möglichkeiten als diese“, sagt Otto. Kinder müssten deshalb bewusst versuchen, sich als Erwachsene zu positionieren.

Vater und Mutter neu kennenlernen

Vielen gelingt das im Alter zwischen 20 und 30 Jahren durch mehr räumlichen Abstand. „Studium in einer anderen Stadt, Auslandsaufenthalte, Zeiten mit weniger Kontakt schaffen die Distanz, die danach ein neues, erwachsenes Verhältnis ermöglicht“, sagt Otto. Dazu müsse man aber auch den Blick auf die eigenen Eltern weiten.

„Sie sind eben nicht nur Eltern, sondern auch Menschen“, sagt Otto. Erwachsene Kinder sollten sich bewusst die Zeit nehmen, diesen Menschen kennenzulernen, der sie großgezogen hat. Welche Interessen hat er? Was sind charakteristische Eigenschaften? Wer sind seine Freunde? „Es sind solche Fragen, die ja auch eine Rolle spielen, wenn wir anderen Erwachsenen begegnen und eine Beziehung zu ihnen aufbauen.“

Für die Eltern dagegen passiert dieser Blickwechsel aufs erwachsene Kind meist wie von allein. „Ab der Pubertät müssen sie sich zwangsläufig Schritt für Schritt von ihrem Kindern lösen und langsam den Erwachsenen in ihm sehen“, meint Otto. Sie sagt aber auch, dass es mit zunehmendem Lebensalter für die Eltern dann immer schwerer werde, die Perspektive aufs Kind noch einmal zu verändern. Wer mit 50 sein Leben nochmals umkrempelt, kann nicht unbedingt damit rechnen, dass die Eltern da erneut mitgehen.

Manchmal sind die Alten flexibler als die Jungen

„Es gibt aber auch hier durchaus Fälle, wo die Eltern sehr viel flexibler sind als die Kinder und beispielsweise mit 70 das Gespräch über ihre Beerdigung suchen wollen und die Kinder blocken es ab“, sagt Otto.

Auch die Schweizer Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello hat viel zu familiären Beziehungen geforscht. Sie sagt: „Die Beziehung zu den Eltern ist nicht einfach gegeben, sie muss im Laufe des Lebens immer wieder neu definiert werden. Damit das gelingt, müssen beide Seiten alte Rollen loslassen können und bereit sein, neue einzunehmen.“

Das klappe nicht ohne klärende Gespräche und manchmal auch Streit. „Besteht eine tiefe Verbundenheit, ist aber auch die Motivation, Differenzen auszuhandeln, groß. Ist diese nicht vorhanden, so sind Konflikte oder gar Brüche programmiert“, sagt Perrig-Chiello.

Als Martina Schäfer das erste Mal nach vielen Jahren wieder gemeinsam mit ihren Eltern in den Urlaub fuhr, hatte sie keine Angst vor solchen Konflikten. „Ich bin auch während meiner Studienzeit noch lange mit meinen Eltern verreist. Schon damals haben wir geklärt, dass jeder da auch seine Freiräume braucht.“ Das bedeutete: An manchen Tagen gab es nur ein gemeinsames Frühstück und jeder machte dann sein eigenes Programm, an anderen Tagen entschieden sie sich für einen Familienausflug.

„Vermutlich haben wir schon damals die Grundlage dafür gelegt, dass ein gemeinsames Verreisen auch im Alter gut funktionieren kann“, sagt Martina Schäfer. Ihr Tipp: Erwartungen an die gemeinsamen Tage vorab klären und ein Ziel aussuchen, dass allen gut passt. „Das waren bei uns sowohl Orte, die wir von früher schon kannten, als auch neue Dinge, die wir noch zusammen erleben wollten.“

Umkehrung des Abhängigkeitsverhältnisses

Ob die Mutter nach dem Tod des Vaters weiter Lust hat, mit ihr zu verreisen, weiß Martina Schäfer noch nicht. Freuen würde sie sich. Ihr ist aber auch klar, dass sich das Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihrer Mutter und ihr in den nächsten Jahren weiter verändern wird. „Schon heute ist sie nicht mehr so gut zu Fuß, statt Wandern sind inzwischen eher Autoausflüge angesagt.“

„Die Umkehrung des Abhängigkeitsverhältnisses im höheren Alter ist eine Herausforderung und wird von vielen als krisenhaft empfunden“, sagt Perrig-Chiello. Die Fachliteratur spricht von „filialer Krise“, wenn in höherem Alter irgendwann viele ausgesprochene und unausgesprochene Hilfs- und Unterstützungsangebote das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern belasten.

„Es ist für unsere Zeit ja auch neu, dass die Kinder oft selbst schon im Rentenalter sind, wenn sie ihre alten Eltern erleben. Sie sehen dabei aus nächster Nähe, was Altwerden bedeutet, und das kann belasten“, sagt Psychologin Otto.

Hilfe aus der Familie ist keine Selbstverständlichkeit

Zumal jemand mit 60 Jahren oft schon nicht mehr in der Lage ist, seine 85-jährigen Eltern zu pflegen. „Das Ideal, dass die Kinder das alles gern und zugewandt leisten können, das ist nicht mehr durchhaltbar, wenn die Eltern so alt werden“, sagt Otto. Es sei deshalb wichtig, dies rechtzeitig offen und ehrlich anzusprechen.

Wer das nicht macht, rutscht Perrig-Chiello zufolge häufig aus Pflichtgefühl in eine festgefahrene Rolle des Pflegenden hinein, für den die Kinder einen hohen Preis in körperlicher, psychischer und sozialer Hinsicht zahlen. „Hilfe aus der Familie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie muss im Dialog ausgehandelt werden, ohne Schuldgefühle. Sich kümmern bedeutet nicht nur direkte Hilfe. Auch Hilfe organisieren oder einfach da sein, ist kümmern“, sagt Perrig Chiello.

Tipps für einen entspannten Umgang

Kinder und Eltern
Akzeptieren, dass Eltern wie Kinder so sind, wie sie sind – und dass man sich diese nicht aussuchen kann. „Und man sollte auch nicht versuchen, sie ändern zu wollen“, sagt Sascha Schmidt, Autor des Buchs „Melde dich mal wieder. Wenn erwachsene Kinder ihre Eltern meiden“ (Humboldt-Verlag, 19,99 Euro).

Machtverhältnis Akzeptieren, dass die Beziehung nie eine Freundschaft auf Augenhöhe sein kann, sondern immer ein Machtverhältnis zugunsten der Eltern. Das liegt an der extremen Abhängigkeit der Kinder in den ersten Lebensjahren. „Man kann deshalb keinen gleichberechtigten Umgang miteinander haben, sehr wohl aber einen gleichwertigen“, sagt Familienberater Sascha Schmidt. Das bedeutet beispielsweise, dass beide das gleiche Recht haben, Emotionen zu zeigen und Argumente auszutauschen. „Kinder haben das Recht, Weihnachten nicht nach Hause zu kommen, und Eltern haben das Recht, das dann blöd zu finden“, nennt Sascha Schmidt ein Beispiel.

Die Verantwortung für die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung haben Sascha Schmidt zufolge maßgeblich die Eltern – „und zwar egal von welchem Alter man redet“. Denn die Eltern sind es, die diese Beziehung in den ersten Lebensjahren aufgebaut haben. Und die Eltern behalten innerhalb der Beziehung auch immer die dominierende Rolle, weil die Kinder eben früher von ihnen abhängig waren. „Wenn ich in den ersten Lebensjahren mit dem Kind keine gute Bindung aufgebaut habe, kann sie später auch nicht erwarten“, sagt Familienberater Sascha Schmidt.

Selbstständigkeit Ein erwachsener Umgang zwischen Eltern und Kindern ist nur möglich, wenn es nicht zu viele Abhängigkeiten gibt und beide ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben führen. Und wenn man ehrlich miteinander umgeht, statt nicht ans Telefon zu gehen oder sich mit Ausreden um einen Besuch zu drücken. „Man muss offen ansprechen, wie viel Umgang einem guttut und wo die Grenzen sind“, sagt Sascha Schmidt. Auch hängt die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung nicht von der geografischen Nähe ab. Nur weil man plötzlich nebeneinander wohnt, ist das gute Verhältnis kein Selbstläufer. „Das Verhältnis kann sogar inniger sein, wenn die Kinder in Australien leben, wenn eine entsprechende Bindung zugrunde liegt“, sagt Sascha Schmidt. (mar)