Okay, Deutschland ist wieder letzter geworden. Na und? Wichtiger ist, dass der 67. ESC vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs für Verbundenheit zwischen den europäischen Nationen geworben hat. Persönliche Eindrücke aus Liverpool.
Auch der Mann mit der Maske will zum ESC. Wie alle, die an diesem Freitagnachmittag in die Bombardier CRJ900 steigen, die von Frankfurt nach Liverpool fliegt. Hier hocken sie dicht gedrängt: farbenfroh gekleidete Fans, die aufgeregt darüber streiten, wie Lord of the Lost abschneiden werden, gut frisierte Influencer, die vor dem Start schnell noch aus dem Flieger per Handykamera ihre Follower auf den neusten Stand bringen, Journalisten, die versuchen, das Treiben skeptisch-distanziert zu beobachten, und eben Jan Böhmermann, der sich hinter der Maske verbirgt und der einen Tag später mit Olli Schulz sein Debüt als ESC-Kommentartor für den ORF geben und den Sieg der Schwedin Loreen und den letzten Platz von Lord of the Lost miterleben wird.
ESC schlägt Jürgen Klopp und die Beatles
Als das Flugzeug in Liverpool landet, haben die Fans dieses europäischen Gesangswettbewerbs die Stadt längst schon im Griff. Die Merseyside-Metropole ist für ein paar Tage nicht mehr die Stadt von Jürgen Klopps FC Liverpool, ja, nicht einmal die Stadt von Ringo, Paul, John und George. Die Beatles kommen an diesem Wochenende nicht gegen den Eurovision Song Contest an. Und zumindest für einen Moment darf Loreen ein kleines bisschen heller am Pophimmel strahlen.
Schon nach dem Juryvoting liegt Loreen mit ihrem pathetischen, aber auch ein bisschen konventionell daher kommenden Dancepop-Ohrwurms „Tattoo“ fast uneinholbar vorne. Als die Publikumsstimmen ausgezählt werden, wird es zwar noch einmal Dank des Finnen Käärijä und dessen grandios-schrillen Mix aus Rammstein, New Wave und Pop namens „Cha Cha Cha“ spannend. Am Ende setzt sich Loreen dann doch (für viele enttäuschend) durch, und gewinnt damit zum zweiten Mal den Eurovision Song Contest. Bereits 2012 holte sie mit dem Song „Euphoria“ den Sieg für Schweden. Sie ist damit die erste Frau, die zweimal den Wettbewerb gewonnen hat. Und bei der anschließenden Pressekonferenz antwortet sie auf die Frage, ob sie sich vorstellen könnte, mit dem Iren Johnny Logan, der wie sie zweimal gewonnen hat, ein Duett aufzunehmen:„Warum nicht?“, ergänzt dann aber gespielt bescheiden: „Was aber, wenn er Nein sagt?“
Der eigentliche Wettbewerb findet woanders statt
Während die 39-jährige Schwedin erzählen darf, wie surreal sich der Erfolg anfühlt, über ihre Spiritualität spricht und verrät, dass „Euphoria“ und „Tattoo“ für sie wie Ying und Yang, wie Mond und Sonne sind, muss sich die Metalband Lord of the Lost aus Deutschland damit abfinden, dass sie Platz 26. belegt und damit letzte wird in dem Spektakel, das Alesha Dixon, Graham Norton, Hannah Waddingham und Julija Sanina angenehm schnörkellos präsentieren.
Aber ist das wirklich so schlimm? Vielleicht fühlt es sich vor den Fernsehbildschirmen so an, als ob es beim ESC nur darum geht, zu gewinnen. Wer es jedoch am Wochenende nach Liverpool geschafft hat und vielleicht sogar ein Ticket für die Show in der M&S Bank Arena am King’s Dock ergattern konnte, weiß, dass beim ESC wirklich Dabeisein alles ist. Wenn es hier tatsächlich so etwas wie einen Sängerkrieg gibt, dann findet er zwischen den Straßenmusikern entlang der Bold- und Churchstreet statt, die am Samstag oft nur wenige Meter voneinander entfernt stehen und versuchen, sich gegenseitig zu übertönen. Und eigentlich ist vor Ort beim ESC das Spannendste, ob es die Fans schaffen, sich noch extravaganter zu inszenieren als ihre Idole.
Lord of The Lost spielen Beatles-Songs
Vor allem an den historischen Docks von Liverpool, wo historische Gebäude auf postmoderne Architekturkolosse aus Stahl und Glas treffen, begegnet man kurios und schrill kostümierten Menschen, die sich alle Ländergrenzen vergessend immer wieder in den Armen liegen, Schlange stehen, um sich vor dem Riesenrad in einer ESC-Skulptur fotografieren zu lassen und einfach gemeinsam Spaß zu haben. Und Lord of the Lost haben vielleicht beim Finale die wenigsten Punkte erhalten, in dieser musikalischen Stadt haben sie aber einen bleibenden Eindruck hinterlassen, indem sie am Donnerstag mit rund 50 Mädchen und Jungen der St.-Hilda’s-Gesamtschule auf deutsch die Beatles-Lieder „I Want to Hold Your Hand“ und „She Loves Yu“ interpretierten.
Dass der ESC kein Wettbewerb, sondern ein Fest ist, macht auch das diesjährige Motto deutlich: „United by Music“: vereint durch Musik. Und obwohl die Veranstalter größten Wert darauf legen, dass der ESC unpolitisch ist, und deshalb sogar dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj verboten haben, eine Rede zu halten, ist der ESC in seinem Herzen doch im besten Sinne politisch: Es finden sich in der Show zahllose Gesten der Verständigung zwischen den Kulturen, die Flüchtlingssituation ist Thema, John Lennons „Imagine“ wird zur Friedensbotschaft, viele der nationalen Jurys bekunden ihre Solidarität mit der Ukraine, und es gibt Platz für so subversive Beiträge wie den der Kroaten Let 3: In „Mama ŠČ!“ verkleidet sich die Kombo in eine Art Village-People-Kopie, die aus dicken Schnauzbart-Männern besteht, die letztlich eine Putin-Parodie sind.
So eine Mischung aus Politsatire und schwulem Kabarett tut dem ESC gut, weil dieser zum einen immer auch eine Party der queeren Community ist. Und zum anderen ist nur Putins Angriffskrieg auf die Ukraine Schuld daran, dass der diesjährige ESC nicht wie sonst üblich im Gewinnerland des Vorjahres ausgetragen werden kann. 2022 holte das Kalush Orchestra mit „Stefania“ den Sieg in die Ukraine.
Enttäuschende Bewertungen für Frankreich und England
Mit der R’n’B-Nummer „Heart of Steel“ schafft es Tvorchi für die Ukraine diesmal nur auf Platz sechs. Allerdings ist die Konkurrenz in diesem Jahr auch sehr gut. Das Duo Teya & Salena, das mit der knuffig-aufstampfenden Elektronummer „Who The Hell Is Edgar?“ für Österreich antritt, hätte eine bessere Platzierung als Platz 15 verdient gehabt, ebenso wie der französische Beitrag: La Zarra (Platz 17) erinnert mit „Évidemment“ für Frankreich an die guten alten Zeiten, als der Eurovision Song Contest noch Grand Prix Eurovision de la Chanson hieß, auch wenn hier Disco-Beats das Chanson aufmischen. Und die Gastgeber sind wahrscheinlich genauso enttäuscht wie die Deutschen. Mae Muller landet mit dem Popsong „I Wrote A Song“ für England nur mit wenigen Punkten Vorsprung auf dem vorletzten Platz.
Doch nach dem ESC ist vor dem ESC. Im kommenden Jahr wird in Schweden um die Wette gesungen werden. Allerdings beginnt dann in Deutschland ein neues Zeitalter, und das hat nichts damit zu tun, dass Lord of the Lost letzter geworden sind, sondern damit, dass Peter Urban, der seit 1997 für den NDR den ESC moderiert hat, nicht mehr dabei sein wird. Vielleicht ist ja Jan Böhmermann auf den Geschmack gekommen? Eine Frage, die man ihm gerne beim Rückflug gestellt hätte. Aber diesmal nahm er offenbar eine andere Maschine.