Marina Stepanyan wird ab Oktober als Kinderärztin in Backnang tätig sein. Foto: Gottfried Stoppel

Der drohende Versorgungskollaps bei der Kinderarztversorgung in Backnang konnte gerade noch abgewendet werden – doch die Lösung hat auch einen Haken.

Der Raumschaft drohte der Verlust einer wichtigen Kinderarztpraxis – doch mittlerweile gibt es Entwarnung. Ab Oktober übernimmt ein von den kreiseigenen Rems-Murr-Kliniken betriebenes Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) im Gesundheitszentrum Backnang (Rems-Murr-Kreis) formal den Kassensitz von Dr. Sabina Delic‑Bikic, die ihre Praxis Ende Juli aufgibt.

Die Leitung übernimmt die 46‑jährige Kinder‑ und Jugendärztin Marina Stepanyan, die mit ihrer Familie von Waiblingen nach Backnang ziehen will. Damit schlagen der Landkreis und die Rems-Murr-Kliniken ein wichtiges Kapitel in der Sicherung der ambulanten Versorgungsstruktur auf.

Brisante Ausgangslage: Die drohende Praxisschließung

Die Nachricht vom Rückzug von Dr. Sabina Delic‑Bikic sorgte für Unruhe: Rund 3000 Kinder wurden in ihrer Praxis bisher betreut. Mit ihrem plötzlichen Weggang drohte nicht nur der Verlust des Kassensitzes, sondern zudem eine Versorgungslücke im gesamten Backnanger Raum. Im Umkreis existieren lediglich drei weitere Kinderarztpraxen – viel zu wenig für die hohe Nachfrage. Für Prof. Ralf Rauch, Chefarzt der Kinderklinik in Winnenden, ist das ein klassischer Fall, der seiner Meinung nach in der ambulanten medizinischen Versorgung immer mehr zur Realität werden wird: „Ein Doc alter Schule betreibt die Praxis jahrzehntelang, geht in Rente – und der Nachfolgerin wird das auf Dauer zu viel.“

Der Rettungsanker: MVZ unter kommunaler Trägerschaft

Marina Stepanyan wird ab Oktober das MVZ für Kinder- und Jugendmedizin in Backnang leiten. Klinikchef André Mertel, Chefarzt Ralf Rauch und Landrat Richard Sigel (von links) sind froh über die Lösung. Foto: Rems-Murr-Kliniken

In einer konzertierten Aktion von Rems‑Murr‑Kliniken und Kreis sprang man ein. Landrat Richard Sigel erläutert: „Wir haben uns zu diesem außergewöhnlichen Schritt entschlossen, weil in Backnang sonst der Wegfall eines de facto dringend benötigten Kinderarztsitzes gedroht hätte.“ Dass der Träger eigentlich nicht primär ambulante Versorgung übernehmen müsse, nehme man in Kauf – als Ausdruck gelebter Verantwortung gegenüber den Familien vor Ort.

Das MVZ-Konzept: Strukturwandel als Chance

Es ist allerdings nicht das erst MVZ, für das der Kreis Verantwortung übernommen hat. Seit 2023 gibt es eines für Frauenheilkunde in Winnenden, 2024 folgte Orthopädie in Backnang – ab Oktober nun die Kinder‑ und Jugendmedizin. Ein deutliches Signal: Die klassische Einzelpraxis ist nicht mehr Zukunft – „nicht mehr kompatibel mit den Lebensrealitäten“, wie es Chefarzt Ralf Rauch beschreibt. Der Vorteil: Ärztinnen wie Stepanyan können sich ganz auf die medizinische Arbeit konzentrieren, ohne Verwaltungsaufwand und Unternehmerrisiko. Geschäftsführer André Mertel verspricht: „Die Tochter-GmbH der Klinik ist nur der Rahmen – sie sorgt dafür, dass sich Frau Stepanyan voll auf ihre medizinische Arbeit konzentrieren kann.“

Übernahme mit Weitblick: Personal und Räume

Das etablierte Praxisteam der Delic‑Bikic‑Praxis wird vollständig übernommen – inklusive Akten, Ausstattung und Patientinnen‑ und Patientenstamm. Die Räumlichkeiten – zuvor Notfallpraxis – werden entsprechend umgebaut: „Die Räume sind gut geschnitten, um dort eine Kinderarztpraxis einzurichten“, betont Mertel. Der Vorteil: schnelle Umnutzung, bekanntes Umfeld, vorhandene Infrastruktur. Gleichzeitig bleibt Raum für Wachstumsoptionen – etwa für eine zweite Ärztin.

Neue Leitung: Lebenslauf und Motivation

Marina Stepanyan stammt aus Armenien, studierte Medizin in Jerewan (1996 bis 2002) und absolvierte eine Facharztweiterbildung. 2015 zog sie nach Baden‑Württemberg, arbeitete in Freudenstadt, ließ sich von 2023 an zur medizinischen Leiterin im MVZ Fellbach berufen – bevor sie sich nun bewusst für Backnang entschied. „Ich habe lange überlegt“, gesteht sie, doch als angestellte Leiterin mit klarer Struktur und familiärer Planbarkeit ist sie überzeugt: „Ich freue mich sehr auf die Arbeit mit den Kindern und Eltern in Backnang.“

Ein Wermutstropfen bleibt

Dass Stepanyan ein MVZ in Fellbach verlässt, sei ein Wermutstropfen, räumt Sigel ein – in engem Austausch mit OB Gabriele Zull aus Fellbach versuche man, eine Lösung dafür zu finden. Ebenso sind Fragen zur Finanzierung und zum Rollenverständnis offen: Neue Strukturen erfordern nachhaltige Zuschüsse und politische Rückendeckung. Landrat Sigel betont, dass man damit „eine Aufgabe übernimmt, für die wir eigentlich keine Zuständigkeit haben. Wir erwarten deshalb aber auch, dass eine auskömmliche Struktur der Finanzierung geschaffen wird.“

Hinter den Kulissen: Strukturprobleme erkennen

Hinter dem MVZ‑Projekt stehen fundamentale Herausforderungen: Im gesamten Rems‑Murr‑Kreis gibt es nur 30 Kinderarztsitze, viele allein in größeren Städten. Die Bedarfsplanung bilanziert: Backnangs Versorgungsgrad liegt derzeit nur bei rund 80 Prozent. Die KV verweist auf gesetzliche Zuständigkeiten – doch der Ball liegt nun bei Bund, Land und KV, eine flächendeckende Versorgung sicherzustellen.

Notfallpraxis-Schließung: Klinik-Notaufnahme vor Überlastung

Schon heute leiden die Notfallbereiche: Mit der Schließung der KV‑Notfallpraxis Ende Juni droht ein weiterer Zustrom in die Klinik‑Notaufnahme – was sich bereits in steigenden Fallzahlen andeutet. Zentrale „Gesundheitspunkte“ – Konzepte, als Pilotprojekt sogar mit Finanzierungszusagen – können wegen Ablehnung der KV nicht realisiert werden.

In Sachen Kinderarztproblematik gewinnt Backnang nun zumindest Zeit – und Perspektive. Mit dem MVZ für Kinder- und Jugendmedizin sowie einer erfahrenen Leitärztin an der Spitze ist ein wichtiger Teil der Versorgung wieder gesichert. Die Struktur hinter diesem Schritt ist jedoch fragil – ob aus diesem Notanker eine dauerhafte Lösung wird, hängt von politischer Unterstützung, stabiler Finanzierung und dem Willen aller Akteure ab. Das MVZ kann Teil einer Trendwende sein – doch den Weg dahin müssen alle gemeinsam gehen. Ende Juli ist der Termin für die Praxisübergabe, Oktober Startschuss. Bis dahin bleibt es spannend.