Wie kommt der Preis an Energiemärkten zustande? Foto: /Imago/Christoph Hardt

Angesichts steigender Strompreise gibt es immer mehr Kritik am europäischen Strommarktdesign. Im Fokus steht der Begriff Merit-Order. Wir erklären, was das ist.

Angesichts galoppierender Gas- und Strompreise hat die EU-Kommission angekündigt, die Art, wie sich die Preise an der Strombörse bilden, überarbeiten zu wollen. Es entspreche nicht mehr den heutigen Notwendigkeiten, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei der Ankündigung der Reform. Im Fokus der öffentlichen Diskussion steht dabei der Begriff Merit-Order. Wir erklären, was das ist, wie der Markt heute funktioniert, welche Missverständnisse kursieren und welche Gegenvorschläge es gibt.

Was ist die Merit-Order?

Merit-Order heißt zu deutsch „Reihenfolge der Vorteilhaftigkeit“ und beschreibt, wie der Preis an Energiemärkten zustande kommt. Demnach bietet jeder Erzeuger seinen Strom so an, dass seine Kosten gedeckt sind. Genau genommen sind es die Grenzkosten, doch dazu gleich mehr. Zum Zuge kommen dann alle Angebote, bis die Nachfrage gedeckt ist – das teuerste zum Einsatz kommende Kraftwerk setzt dann den Preis für alle Angebote. Es selbst nimmt nur seine Grenzkosten ein, alle anderen machen Gewinne. Den Preis, der dabei entsteht, nennt man Grenzpreis.

Was sind Grenzkosten?

Grenzkosten sind die Kosten, die anfallen, um die nächste Ware oder in diesem Fall die nächste Megawattstunde zu erzeugen. Die Botschaft ist also: Das ist der Preis, den ich mindestens brauche, damit es sich lohnt, mein Kraftwerk laufen zu lassen. Investitions- oder Kapitalkosten sind nicht enthalten, dafür aber beispielsweise die Brennstoffkosten. Windkraft oder Solarenergie können am Markt sehr günstig angeboten werden, weil ihre Grenzkosten gegen Null gehen. Niedrige Grenzkosten haben auch Atomkraftwerke – würde man aber Entwicklung, Bau und Entsorgung der Brennstoffe mit einberechnen, sähe das ganz anders aus. Ähnliches gelte, wenn man bei den Erneuerbaren die Kosten für ihren regelmäßigen Ausfall miteinberechnete, wenn der Wind nicht weht oder die Sonne nicht scheint, sagen Kritiker.

Und warum bekommen alle Anbieter den Grenzpreis?

Weil auf einem Rohstoffmarkt keiner zu einem Preis verkaufen würde, der unter dem maximal erzielbaren liegt. Positiver Nebeneffekt des Grenzpreises ist, dass günstigere Erzeugungsarten so einen höheren Gewinn erwirtschaften, der sich in einen Ausbau investieren lässt. Im Idealfall führen die aktuell hohen Strompreise also zu enormen Investitionen in Wind, Sonne, Biogas etc.

Wer hat dieses Prinzip erfunden?

„Der Grenzpreis ist keine künstliche Regel, die sich irgendeine Institution oder Person ausgedacht hat“, sagt der Energieexperte Lion Hirth. „Es ist keine willkürliche Wahl zwischen alternativen Marktdesigns, sondern der natürliche Weg, wie sich Preise auf freien Märkten bilden“, so der Professor für Energiepolitik an der privaten Hochschule Hertie School in Berlin. Auch andere Rohstoffmärkte funktionierten, wenn auch unter anderem Namen, nach eben diesem Prinzip – „egal ob Öl, Gas, Kupfer, Milch oder Solaranlagen“, so Hirth. Das Merit-Order-Modell sei keine Regel, sondern die Beschreibung eines Marktes.

Was passiert gerade?

Aktuell treffen mehrere Entwicklungen zusammen: Zum einen fällt derzeit in Frankreich etwa die Hälfte der 56 Meiler umfassenden Atomkraftwerksflotte wegen Wartung beziehungsweise technischer Mängel aus. Zum zweiten verhindert der niedrige Wasserstand der Flüsse die Versorgung von Kohlekraftwerken im üblichen Umfang. Und drittens ist der Gaspreis auf Rekordniveau – und Gaskraftwerke sind es, die die beiden erstgenannten Probleme ausgleichen müssen. Sie sind ohnehin schon lange die teuersten Kraftwerke im Markt und setzen auch jetzt den Strompreis wie in der Merit-Order beschrieben. Nur, dass dieser Preis eben aktuell besonders hoch ist.

Ist Entspannung in Sicht?

Nicht wirklich. Und auch dafür gibt es wiederum mehrere Gründe: Zum einen heizen überdurchschnittlich viele Haushalte in Frankreich mit Strom. Sollte das Atomproblem bis zum Herbst nicht behoben sein, wird das Land deshalb noch stärker als im Moment auf Importe aus Nachbarländern wie Deutschland angewiesen sein. Hinzu kommt, dass wegen der Dürre die Speicherseen in Südskandinavien und den Alpen nicht so stark gefüllt sind wie sonst – und daher im Winter voraussichtlich weniger Strom produzieren können als gewöhnlich. Und schließlich haben viele deutsche Haushalte, die normalerweise mit Gas heizen, Heizlüfter oder Radiatoren angeschafft, um statt mit Gas mit Strom heizen zu können – was den deutschen Verbrauch ebenfalls in die Höhe treiben könnte.

Welche Vorschläge gibt es?

Griechenland hat Ende Juli vorgeschlagen, den Markt in zwei Segmente aufzuteilen: einen für Erzeugungsarten, die wie Erneuerbare, aber auch Atomenergie oder Kraft-Wärme-Kopplung aus fossilen Brennstoffen niedrige Grenzkosten haben, und einen für den Rest. Für diejenigen Erzeuger mit niedrigen Grenzkosten will Athen Preise vereinbaren, die sich an deren gesamten Kosten orientieren. Läge der Börsenpreis dann tatsächlich darüber, würde das über eine Umlage ähnlich der EEG-Umlage ausgeglichen. Läge der Börsenpreis darunter, müssten die Erzeuger zu hohe Einnahmen zurückzahlen.

Gibt es Beispiele?

Bereits Mitte Juni haben Spanien und Portugal einen Preisdeckel für Gas eingeführt. Betreiber von Gaskraftwerken erhalten die Differenz zwischen dem auf 50 Euro pro Megawattstunde festgesetzten Preisdeckel und dem deutlich höheren Marktpreis zurückerstattet. Dafür erheben die Länder eine gesonderte Steuer. Zudem wollen sie eine Übergewinnsteuer einführen, mit der Unternehmen, die von den hohen Energiepreisen profitieren, belastet werden. Spanien und Portugal sind allerdings in zweierlei Hinsicht ein Sonderfall: Denn erstens ist das Stromnetz der iberischen Halbinsel kaum mit dem Rest Europas verbunden und zweitens weit weniger als andere Länder der EU auf russisches Gas angewiesen, weil Spanien über ein Drittel der LNG-Terminals in Europa verfügt.

Sind Eingriffe ratsam?

„Eine Diskussion über eine Umverteilung von Gewinnen und eine Entlastung der Verbraucher, die aber Einsparanreize erhält, also kein einfacher Preisdeckel ist, halte ich für den Weg, den man kurzfristig beschreiten kann“, sagt der Energieexperte Christoph Maurer, Geschäftsführer der energiewirtschaftlichen Beratungsfirma Consentec in Aachen. Tiefergreifende Änderungen des Marktdesigns sollte aber man auf keinen Fall kurzfristig beschließen, warnt er. „Das Risiko, dass man dann zu nicht durchdachten Lösungen kommt und die Krise möglicherweise sogar verstärkt, ist sehr groß.“ Eine Debatte über Änderungen werde man gleichwohl führen müssen. „Ich hoffe aber, dass, wenn man das mit der notwendigen Ruhe macht, man vielleicht merken wird, dass am aktuellen Design nicht alles schlecht ist.“