Ausschnitt aus dem Bild von Hans Robertson: „Der Tänzer Harald Kreutzberg“ aus dem Jahr 1925. Das Bild und weitere Eindrücke aus dem Bildband und der Ausstellung „Neu Sehen“ finden Sie in der Bildergalerie. Foto: Kerber Verlag/Hans Robertson

Lust am Experiment: Ein Bildband und eine Ausstellung zeigen eindrucksvoll, wie die Fotografinnen und Fotografen vor 100 Jahren „Neu sehen“ übten.

Stuttgart - Sofort möchte man die Backen aufblasen und lospusten, damit die Schirmchen durch die Luft segeln. Als hätte man die Pusteblume nah vor dem Auge, so zeigt Fred Koch die Pflanze. Allerdings ist dies keine Naturdokumentation.

Der Fotograf hat nicht einfach abgedrückt und vergrößert, sondern mit dem Seziermesser gearbeitet, Partien beleuchtet, den Fokus auf die feinen Härchen der Samen gelenkt. Über derlei Geheimnisse, Geschichten und Entwicklungen informiert in Bildern und klugen Texten der Fotoband „Neu sehen“ und eine Ausstellung im Städel Museum.

Fotografie in einer Zeit des Umbruchs

Die Fotografie der 20er und 30er Jahre wird in den Blick genommen. Eine Zeit des Umbruchs. Nach dem Ersten Weltkrieg sind den Menschen einige Gewissheiten abhandengekommen, neue Sichtweisen im Allgemeinen sind gefragt und in der noch jungen Kunst der Fotografie im Besonderen. Die Wissenschaft, der Sport, die Politik, die Werbung entdecken die Fotografie für sich. An Hochschulen – auch am Bauhaus – wird Fotografie gelehrt.

Und die Kunst. Zum Begriff „Neues Sehen“ zählten starke Kontraste, ungewöhnliche Bildausschnitte, extreme Vergrößerungen. Die Möglichkeit, Bewegung festzuhalten. Und seine Zeit im Bild zu bannen. Seien es bedeutende Ereignisse und Menschen, seien es normale Menschen.

Porträts von August Sander

Als Vertreter ihrer Klasse, ihres Berufes, hatte August Sander Männer und Frauen fotografiert; im Hintergrund ist manchmal ihr Tätigkeitsumfeld zu sehen, manchmal sitzen oder stehen sie vor schlichtem Hintergrund. Sein Buch „Antlitz der Zeit. 60 Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts“ von 1929 wurde ein Bestseller und Klassiker.

Sander hat auch ein Künstler-Ehepaar fotografiert: Martha und Otto Dix. Der Maler schaut beiseite, will sich dem Blick der Kamera nicht stellen. Hier ist derjenige, der ein Einzelstück, ein Original schafft, dort derjenige, der ein unendlich oft reproduzierbares Werk herstellt.

Was sich damals abzeichnete, hat sich längst etabliert: Fotografie als Kunst. Wie Auktionen zeigen, die etwa Sanders Fotos für fünfstellige Beträge versteigern. Und wie dieses Buch und die Schau „Neu sehen“ mit über 100 Fotografien im Städel Kunstmuseum Frankfurt am Main eindrücklich beweisen.

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Info

Buch
„Neu sehen. Die Fotografie der 20er und 30er Jahre“. Hg. v. Kristina Lemke. Kerber Verlag, 256 Seiten. 49,90 Euro. Der Band enthält interessante Essays, zeigt viele Fotos, informiert auch über die Biografien der Fotografen.

Ausstellung
Das Städel Museum in Frankfurt am Main (Schaumainkai 63) zeigt die Fotoausstellung „Neu sehen“ bis zum 24. Oktober. Geöffnet Di, Mi, Fr, Sa, So 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr. In sieben Kapiteln zeigt die Schau, wie sich die Fotografie in verschiedenen Kontenten in der Zwischenkriegszeit entwickelte und gibt Ausblicke in die 30er Jahre, in der die Fotografie auch als Kommunikationsmittel für die politische Propaganda der Nationalsozialisten instrumentalisiert wurde.