Im Stuttgarter Stadtmuseum haben Mitglieder der damaligen Demonstration nach zehn Jahren über den „Schwarzen Donnerstag“ und seine Folgen diskutiert. Foto: Lichtgut/Ferdinando Iannone

Vor zehn Jahren fuhr die Polizei im Schlossgarten mit Wasserwerfern auf, damit die Bahn Bäume für Stuttgart 21 fällen konnte. Am Jahrestag diskutierten Teilnehme rund Wissenschaftler im Stadtpalais.

Stuttgart - Der Tag, der die Stadt verändert hat und für viele als kollektives Trauma in Erinnerung bleiben wird, war exakt zehn Jahre danach Thema einer Podiumsdiskussion im Stadtpalais. Die Aufarbeitung jenes Schwarzen Donnerstags möge, so der Wunsch von Stuttgarts Kulturamtsleiter Marc Gegenfurtner im einführenden Grußwort, neben der historischen Betrachtung „auch die Perspektive, den Blick nach vorn nicht vergessen“. Was also bleibt vom 30. September 2010 und dem aus dem Ruder gelaufenen Polizeieinsatz gegen Protestierende im Stuttgarter Schlossgarten? Welchen Einfluss hatte und hat er auf die weitere Entwicklung bei Stuttgart 21 und anderen Großprojekten, auf die neue Kraft von Bürgerbegehren und letztlich auch auf das Verhältnis zwischen Staat und Bevölkerung?

Drei Zeitzeugen als Teilnehmer an der damaligen Protestaktion und zwei Wissenschaftler gingen zusammen mit Moderator Armin Käfer diesen Fragen nach. Alle waren sich einig, von der Gewalteskalation an jenem Tag genauso überrascht wie entsetzt gewesen zu sein. „Wie ist so etwas möglich? Davor war es eine ganz andere, fast lockere Stimmung im Schlossgarten“ – plötzlich sah sich Daniel Kartmann „martialisch ausgestatteter Polizei“ und aggressivem Vorgehen der Ordnungskräfte ausgesetzt.

Der Einsatz war rechtswidrig

Der Musiker wurde wie viele andere von Wasserwerfern getroffen und erheblich am Auge verletzt. Die später gerichtlich festgestellte Rechtswidrigkeit des Einsatzes brachte Kartmann fast sieben Jahre danach „und erst nach großem Kampf“ 14 000 Euro Schadenersatz. Als „fast lächerlich“ bezeichnet Dieter Reicherter die Höhe der Summe. Beim pensionierten Staatsanwalt und Richter am Landgericht, damals mehr zufällig als aus Überzeugung zum Protestteilnehmer geworden, haben die ersten Reaktionen von offiziellen Seiten „meinen Blick auf den Rechtsstaat total verändert“. Reicherter stellte Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Polizei und sah sich „angestachelt, noch aktiver zu werden“.

Ein typischer Wutbürger? Der im Zuge des Schwarzen Donnerstags geborene Begriff ist nicht nur für Dieter Reicherter irreführend. „Damit will man Projektgegnern die Vernunft absprechen“, sagt er. Auch Dieter Rucht, vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin in die Runde zugeschaltet, hält ihn für „unglücklich, weil nicht nur Wut mitspielte“. Mutbürger – das gefiel allen in der Diskussionsrunde besser. Und gerade diese mutigen Bürger hätten durch ihre politische Einflussnahme „für einen guten Ausgang einer schlechten Geschichte“ gesorgt, wie Protestteilnehmer Alexander Schlager den 2011 erfolgten politischen Machtwechsel im Land bezeichnet. Die grün geführte Landesregierung, bestätigte Politikwissenschaftlerin Melanie Nagel, habe durch „verbale Abrüstung“ und andere Maßnahmen wie Referendum und Stresstest damals recht schnell für eine „Depolarisierung“ und Befriedung gesorgt.

„Belebung der politischen Kultur“

Ob der Protest gescheitert sei, weil S 21 ja auch nach dem Schwarzen Donnerstag weitergeführt wurde, fragte StZ-Journalist Käfer provokativ in die Runde. „Überhaupt nicht“, so die einhellige Antwort. Daniel Kartmann sieht in der Art, wie die S-21-Gegner ihre Proteste aufzogen und in Form der regelmäßigen Montagsdemos dauerhaft aufrechterhalten, einen „eindeutigen Zusammenhang“ zur heutigen Fridays-for-Future-Bewegung.

Alexander Schlager nennt es „Belebung der politischen Kultur“, wenn Menschen sich formieren und „kreatives Potenzial“ beim bürgerschaftlichen Engagement zeigen. Und für Dieter Reicherter steht fest: „Es ging und geht nicht nur um den Bahnhof, sondern um viel mehr.“