Helmuth Rilling 2017 beim Musikfest in Stuttgart. Foto: Bachakademie/Holger Schneider

Er hat unzähligen Menschen den Weg zur Musik Johann Sebastian Bachs geebnet. Nun wird der Dirigent und Kirchenmusiker Helmuth Rilling 90 Jahre alt.

Zu Recht gilt das Stuttgarter Ballett als internationale Kulturmarke der Landeshauptstadt. John Cranko hat die Kompanie einst weltweit bekannt gemacht; seine Nachfolger können bis heute darauf aufbauen.

Eben diesen Status muss man ohne Zögern auch einem anderen der hiesigen Kulturschaffenden zubilligen: dem Kirchenmusiker und Dirigenten Helmuth Rilling. Wo immer in der Welt die Musik Johann Sebastian Bachs geliebt und geschätzt wird, ist sein Name bekannt und anerkannt. Seiner, und die Namen jener musikalischen Institutionen, die er im Lauf vieler Schaffensjahre ins Leben gerufen hat: die Gächinger Kantorei, das Bach-Collegium Stuttgart, die Internationale Bachakademie. Neben Leipzig, das bis 1989 bekanntlich hinter einer nur schwer zu überwindenden Grenze in der DDR lag, wurde Stuttgart dank Rilling das deutsche Zentrum der Bachforschung und -pflege.

Ein Pionier, der sich selbst mehrfach toppte

Wer in den 1970er oder 1980er-Jahren am Wochenende das Klassikprogramm eines Radiosenders einschaltete, hatte sehr gute Chancen, die sonntägliche Bachkantate in der Interpretation Helmuth Rillings zu hören. Er war der erste Dirigent, der das gesamte Kantatenwerk des Thomaskantors auf Schallplatte einspielte. Zu toppen wusste er diese Leistung allerdings noch im Jahr 2000 – da veröffentlichte er auf 172 CD’s überhaupt jede Note, jede Komposition, die Bach jemals irgendwo gesetzt hat. Die enge Zusammenarbeit mit dem Musikverleger Friedrich Hänssler hat dies möglich gemacht. Die internationalen Kritiker überhäuften das Werk mit Preisen.

Aber wer nun glaubt, hier sei in erster Linie ein musikalisch-künstlerischer Selbstverwirklicher am Werk, dem es vor allem um letztgültige Interpretationen und den zugehörigen Lexikon-Ruhm geht, der hat Rilling wahrscheinlich nie dort erlebt, wo er für viele am lebendigsten, am authentischsten wirkte: in seinen berühmten, Maßstäbe setzenden „Gesprächskonzerten“.

Zu einer Zeit, da die meisten Künstler und Institutionen noch nicht mal entfernt daran dachten, ihre Arbeit dem Publikum zu erläutern, es ihm näher zu bringen, auf es zuzugehen, entwickelte Rilling ein Format, in dem er Konzert und Musikerläuterung miteinander verband. Er gliederte das Werk in kleine Abschnitte, ließ Chor, Musiker und Solisten immer wieder unterbrechen, um dem Publikum einzelne Passagen, ihre Entstehung, vor allem ihre Bedeutung zu erläutern. Und während andernorts die Fachleute der Alten Musik gerade Tempiprobleme zu Fragen der Weltanschauung erklärten, ging es ihm vor allem darum, den Sinn für jene Inhalte und Botschaften zu wecken, die durch die Musik transportiert werden. Unzähligen Menschen hat Rilling so nicht nur die Ohren, sondern vor allem die Herzen geöffnet.

Rilling brachte die Stadt zum Klingen

Womöglich war es im Sommer 2000, als der schwäbische Bach-Botschafter jenen Zenit erreichte, über den man noch 23 Jahre später in der Erinnerung nur staunen kann: Auf einem wahrlich internationalen Musikfest erklangen vier Uraufführungen zeitgenössischer Passions-Oratorien aus vier verschiedenen Kulturkreisen, eingerahmt von den beiden Großwerken Bachs, der Matthäus- und der Johannespassion, ergänzt an jedem Abend von Gesprächskonzerten. Die Stadt vibrierte. Ach was, sie klang.

Dass sein Abschied von der Bachakademie 2012 institutionell weniger geschmeidig verlief, als sich viele Freunde und Förderer der Institution dies gewünscht hätten, ist bei einem derartigen Lebenswerk wohl leider kaum vermeidbar. Immerhin: zum Stabwechsel an Hans-Christoph Rademann kam der damalige Bundespräsident Joachim Gauck persönlich in die Liederhalle. Am Pfingstmontag feiert Helmuth Rilling in seinem Heimatort Warmbronn – er ist dort Ehrenbürger! – den 90. Geburtstag.