Erst beim zweiten Mal Hinsehen wirklich schön: die Stadt Le Havre wurde nach der vollständigen Zerstörung im Krieg aus dem Nichts radikal neu aufgebaut – mit einem zukunftsweisenden Konzept. Foto: Krohn/Krohn

Die Hafenstadt Le Havre ist nach dem Krieg aus einem einzigartigen Konzept entstanden. Lange geschmäht, entwickelt sich erst jetzt ein gewisser Stolz bei den Einwohnern.

Le Havre - Le Havre hat einen schlechten Ruf. Das Wort „Beton“ schießt den meisten Franzosen beim Namen dieser Stadt durch den Kopf. Sehr viel Beton! Manche erinnern sich auch noch an das eigene Erstaunen, als sie im Geschichtsunterricht in der Schule gelernt haben, dass nicht die deutschen Besatzer, sondern befreundet alliierte Flugzeuge die Hafenstadt Anfang September 1944 in Schutt und Asche gelegt haben. Die nackten Zahlen lassen den Horror erahnen: innerhalb von Stunden starben bei den Luftangriffen damals 5000 Menschen, fast 13 000 Wohnungen wurden zerbombt, 80 000 Menschen waren über Nacht ohne Unterkunft. 133 Hektar Ruinen bedeckten bei Kriegsende das Stadtzentrum.

Ein radikaler Neuanfang nach dem Krieg

Das Schicksal der Zerstörungen teilte Le Havre mit einigen anderen französischen Städten. Doch in der Hafenmetropole an der Seine-Mündung entschied man sich für einen radikalen Neuanfang, ein noch nie dagewesenes städtebauliches und soziales Experiment. In Le Havre sollte die Stadt der Zukunft entstehen, wobei Beton tatsächlich eine Hauptrolle spielte – und damit wurde der schlechte Ruf der Stadt sprichwörtlich zementiert.

Der Spott ließ nicht lange auf sich warten und schnell hatten sich im Rest von Frankreich die Vorurteile festgesetzt. Immer wieder wurde die graue Unansehnlichkeit Le Havres betont, bis schließlich sogar die Einwohner selbst nichts Schönes an ihrer Stadt mehr fanden. Als „doppelte Zerstörung“ kritisierten es viele Franzosen. „Niemand war wirklich stolz darauf, hier zu wohnen“, sagt Adeline Fouquer. Doch Le Havre habe viele Überraschungen zu bieten und zum Beweis ihrer Worte lenkt die junge Stadtführerin ihren Schritt in die Kirche Saint-Joseph. Mächtig erhebt sich der achteckige, 106 Meter hohe Turm des Gotteshauses über die Stadt. Trutzig-grau von außen, wartet im Inneren auf den Besucher ein Farbenspektakel. Über 12.000 bunte Fenster wurden im offenen Turm verbaut und je nach Tageszeit taucht der Besucher beim Betreten des Gebäudes in ein atemberaubendes Meer von Blau, Grün, Rot, Gelb.

Eine Stadt mit überraschenden Ecken

„Wer in Le Havre eine graue und langweilige Betonwüste erwartet, der unterschätzt die Genialität von Auguste Perret“, sagt Adeline Fouquer. Der Architekt wurde nach dem Krieg von der französischen Regierung mit dem radikal neuen Aufbau der Stadt beauftragt. Perret war ein berühmter, aber nicht unumstrittener Mann und seine Wahl bedeutete die radikale Abkehr vom bekannten Fachwerkidyll anderer normannischer Städte. Nichts sollte in der Hafenstadt an jene bürgerliche Enge früherer Jahrhunderte erinnern.

Breite, wie mit dem Lineal gezogene Boulevards beherrschen heute Le Havre und öffnen die Stadt an allen Seiten großzügig gegen das Meer. „Die Avenue Foch ist mit 80 Metern etwas breiter als die Champs-Élysées in Paris“, erzählt Adeline Fouquer nicht ohne Stolz. „Damit sollten wohl die Besucher aus der Hauptstadt beeindruckt werden, die auf ihrem Weg vom Bahnhof zum Strand die 700 Meter lange Straße nehmen mussten.“ Heute gleitet fast lautlos die hochmoderne Straßenbahn den Boulevard hinunter, flankiert von einer Baumallee und der Platz reicht auf beiden Seiten noch für breite Trottoirs und großzügige Radwege.

Ein Konzept mit großer Zukunft

Ebenso radikal und zukunftsweisend ging Auguste Perret bei der Konstruktion der Häuser vor. Die Zeit drängte beim Aufbau, denn Zehntausende Menschen waren nach den Bombardements obdachlos. In dieser Situation machte der Architekt machte aus der Not eine Tugend. Da an Baumaterialien Mangel herrschte, ließ er den Schutt der Ruinen nach Farben trennen, dann zermahlen und fügte noch Farbpigmente hinzu. Aus diesem Beton baute er die Häuser, was den Gebäuden eine eigentümliche, gedeckte Farbigkeit verleiht. In den Beton mischte er manchmal auch noch Glassplitter, die in der Sonne glitzern. Und wer genau hinsieht, erkennt erstaunt, dass zwar gerade Linien gezogen wurden, aber keine Schmucklosigkeit herrscht, kein Bauhaus. Es zeigt sich immer wieder eine bescheidene Manieriertheit mit Säulen und unauffälligen Verzierungen an den Fassaden.

Die klaren, modernen Strukturen finden sich auch in den Wohnungen wieder. Sie sind in allen Gebäuden gleich strukturiert und orientieren sich an den Bedürfnissen einer Familie. Alles wurde von August Perret durchdacht, in den hellen Räumen, in denen sich die Menschen länger aufhalten, dringt Tageslicht durch die sehr großen Fenster. Das Wohnzimmer besitzt weite Türen und Schiebewände, um die verschiedenen Räume gegeneinander abzugrenzen oder miteinander zu verbinden. Und auch die Ausstattung war damals zukunftsweisend: alle Wohnungen besitzen Zentralheizung und in der Küche ist ein Müllschacht zu finden, der den Abfall zu einer zentralen Sammelstelle im Keller leitet.

Geradlinige Strukturen in den Wohnungen

Vor einigen Jahren wurde von den Verantwortlichen in Le Havre eine Musterwohnung im Stil der Fünfzigerjahre eingerichtet. Alles ist originalgetreu bis ins kleinste Detail wie Küchenmaschinen oder die Einrichtung der Kinderzimmer – und zeigt einen Sinneswandel im Umgang mit der eigenen Stadtgeschichte. Die Einzigartigkeit der Stadt wird hervorgehoben, die einst als Vision auf eine bessere Zukunft aus den Ruinen des Krieges erstand. Es wurde damit begonnen, die Gebäude zu renovieren, die über Jahrzehnte vernachlässigt worden waren und an denen der salzig-feuchte Seewind an der Substanz nagen konnte. „Bei den jungen Leuten gilt es längst als cool, in den Perret-Häusern zu wohnen“, sagt Adeline Fouquer und immer mehr Einwohner würden mit Stolz auf die eigene Stadt blicken. Schließlich sei das Leben in Le Havre wie das Leben wie in einem großen Gesamtkunstwerk.