Doris Soffel (vorne) als Alte Dame mit dem Chor der Bayerischen Staatsoper Foto: Staatsoper/Winfried Hösl

Das neue Leitungsteam der Bayerischen Staatsoper, Serge Dorny und Vladimir Jurowski, startet spektakulär mit Schostakowitschs Gogol-Oper „Die Nase“. Regie in München führt Kirill Serebrennikov per Videoschaltung.

München - Keine Oper von Verdi. Keine von Wagner. Und wo ist eigentlich Jonas Kaufmann? Der Spielplan der Bayerischen Staatsoper ist irritierend anders. Der neue Intendant Serge Dorny, der von der Oper Lyon nach München kam, setzt weniger als zuvor Nikolaus Bachler auf großes, bekanntes Repertoire und singende Prominenz. Stattdessen gibt es viel Unbekanntes, nicht so häufig Gespieltes, ja sogar ein kleines Neue-Musik-Festival. Außerdem hat Dorny seine erste Spielzeit mit einem selten gespielten, wilden, experimentellen Stück des 24-jährigen Dmitri Schostakowitsch eröffnet: Am Sonntagabend feierte die voll besetzte Staatsoper lautstark den Beginn einer neuen Ära, hieß den Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski willkommen und feierte schließlich einen Mann, der gar nicht anwesend war: Kirill Serebrennikov.

Präsent war der Regisseur aber schon. Zwar wurde er 2020 in Moskau nach einem dubiosen Prozess wegen eines unterstellten Subventionsbetrugs zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt und sitzt seither dort in Hausarrest. Aber beim Schlussapplaus lächelte er, live zugeschaltet, von einer Leinwand aus ins Publikum. In ähnlicher Weise muss er zuvor seine Helfershelfer in München instruiert haben, und man spürt: „Die Nase“ ist für Serebrennikov ein inneres Anliegen. Es gehe hier, sagt er, um den Identitätsverlust des Menschen und die Angst davor. Von der zwar hintergründigen, aber doch vor allem satirisch-munteren Schostakowitsch-Revue, die Barrie Kosky 2018 an der Komischen Oper Berlin inszenierte, ist das meilenweit entfernt.

Ein Stück über den Identitätsverlust des Menschen

Die Musik gibt Serebrennikov Recht. Ihre Identität besteht darin, dass sie keine hat – was das Zuhören zuweilen anstrengend macht, denn fast alles steht hier in Anführungszeichen. Jede Szene hat ein eigenes Kolorit, und auf engstem Raum reiht sich Gegensatz an Gegensatz. Fuge, Cluster, Tonales und Atonales, polyfones Gegeneinander, großes Orchester, feine (Bläser-)Kammermusik, Zirkusklänge, Choräle, Folklore mit Balalaika und singender Säge: Vladimir Jurowski, das fantastische Bayerische Staatsorchester und ein exzellentes Sängerensemble rund um Boris Pinkhasovich, Sergei Leiferkus, Laura Aikin, Andrey Popov und Sergey Skorokhodov nehmen sich des klingenden Kaleidoskops hochengagiert und mit großer Präzision an. Hörend kann man viel entdecken. Aber auch wenn Schostakowitsch damals noch nicht unter politischen Repressionen litt und mit seiner Parodie vor allem auf das Zarenreich abzielte: Er verbirgt sich hinter der Groteske. Und man liegt nicht falsch, hier eine Übereinstimmung mit der Inszenierung zu sehen, denn Serebrennikov verbirgt sich ebenfalls.

Privilegien sind wichtiger als Freiheit und Selbsterkenntnis

Aus seiner Situation heraus kann man das verstehen. Was und wen seine szenische Satire auf den Obrigkeitsstaat genau meint, bleibt ziemlich offen. Auf der Bühne sieht man eine hässliche Gesellschaft der Vielnasigen: Je mehr Nasen auf der Maske eines Sängers kleben, desto höher ist sein gesellschaftlicher Rang. Kovaljov, hier ein einfacher Polizist, könnte zwar den Verlust seiner Nase als Gewinn von Freiheit und Selbsterkenntnis feiern, aber da der Zinken für seine vielen Privilegien steht, setzt er alles daran, ihn wiederzugewinnen. Grotesk ist allerdings, dass die als Figur verselbstständigte Nase in München kein Traum- und Zerrbild, sondern, als Spiegelfigur des Protagonisten, ein Sänger im Anzug ist.

Drumherum: ein kafkaesker Polizeistaat, der Absperrungen aufstellt und wieder abbaut. Über den surrealen Gestalten sieht man Videos von Demonstrationen, Straßenbilder aus St. Petersburg. Und die Gewalt der Exekutive reicht bis hinein in die Musik: Beim rhythmisch tosenden Perkussionsintermezzo werden neun dunkel gewandete Schlagzeuger auf einem Podest auf die Bühne geschoben, und die Schläge, mit denen sie ihre Instrumente traktieren, könnten auch Menschen gelten.

Die karg ausgestattete Bühne wahrt eine Schwarz-weiß-Optik – bis kurz vor dem Ende. Da ertönt plötzlich der Anfang von Schostakowitschs achtem Streichquartett, und die leise insistierenden Klänge erreichen, was zuvor nur kurz in den Szenen des leidenden Kovaljov gelang: Man fühlt mit, ist tief berührt. Die Szene dazu zitiert ein Gemälde von Sergej Lutschischkin: zwei Häuserfronten, dazwischen eine kahle Straße, hinter den Fenstern Menschen, einer wirft sich in einen herabbaumelnden Strick. Harter Schnitt – zurück zur Opernpartitur. Auf der Straße steht einsam ein Mädchen, über ihr der erste wirkliche Farbfleck des Abends, ein roter Luftballon. Ein Knall. Der Ballon? Oder ein Schuss? Schluss.

Was Serge Dorny in München plant

Schostakowitsch
„Die Nase“ ist nochmals am 27. und 30. 10. sowie am 2. und 5. 11. zu sehen.

Premieren
Neu erarbeitet werden u. a. Lehárs „Giuditta“, Brittens „Peter Grimes“, Haydns „L’ infedeltà delusa“, Berlioz’ „Les Troyens“ und Pendereckis „Die Teufel von Loudon“, außerdem drei Opern von Georg Friedrich Haas (in Kombination mit Werken Claudio Monteverdis).

Karten unter 089 / 21 85 19 20. Informationen: www.staatsoper.de