Gleich drei Herren Kwant (von links): Christian A. Koch, Daniel Großkämper und Gesine Hannemann. Foto: Patrick Pfeiffer

Christof Küster inszeniert Philipp Löhles Digitalisierungsklamotte „Die Mitwisser“ an der Esslinger Landesbühne. Das Internet heißt hier Herr Kwant.

Esslingen - Das Internet trägt 80er-Jahre-Mähne, Nerdbrille, hängende Mundwinkel, graue Hosen und heißt Herr Kwant. Der freie Wille hat beleibtes Format, weiß lange nichts von sich und heißt Theo. Beide, Herr Kwant und Theo, verstehen sich prima – und am Ende gar nicht mehr. Weil die alles regulierende, alles optimierende Online-Macht nicht weiß, was freier Wille ist. Und weil der freie Wille ob des digitalen Funktionierens um seinen Freiraum fürchtet. Klappt ja alles so super: 79 Prozent weniger Verkehrstote dank autonomer Steuerung – wer will da widersprechen?

Ja, der unaufhaltsame Siegeszug der Digitalisierung, spätestens seit Corona begleitet von den Fanfaren allein seligmachender Weltrettung: Philipp Löhle hat 2018 – also vor Corona – ein Drama darüber geschrieben. Blöd nur, dass die Digitalisierung so verdammt undramatisch ist. Dramen sind immer nur menschlich, und genau das bestätigt Löhles Digitalisierungsklamotte „Die Mitwisser“, indem der Autor zunächst das Kernproblem des Stoffs löst: durch Entdigitalisierung. Im Analogzustand steht das klassisch-bühnenmäßige Darstellungsmittel parat, die Verkörperung. Herr Kwant also. Einer, der alles macht, fast alles kann, fast alles weiß (außer eben, was freier Wille ist). Der IT-Inbegriff in Menschengestalt, die ihm in der Esslinger Landesbühne (WLB) Christian A. Koch verleiht – emotionslos mit robotermäßig wiederholten Verbal-Likes („Gefällt mir!“), säulenstarr, wenn er nicht gerade den Slapstick-Clown macht.

Es geht ums Online-Ganze

Dass überhaupt in Christof Küsters Inszenierung Statuarik – oder zumindest stationäre Schauspielbehandlung – dominiert, ist den diversen Corona-Bühnenregeln seit der ursprünglich für Anfang April geplanten Premiere geschuldet. Doch zugleich spiegeln Abstandhalten und Co. die theatralisch zu stellende Diagnose: Autismus im Cyberspace. Zumal, wenn die (körper-)sprachlichen Pointen, die Posen und Possen so präzise sitzen, so sinnfällig zünden wie beim WLB-Ensemble in Küsters Regie. Dazu gehört, wie gekonnt Markus Michalik den Theo als menschliche Gegenfigur zu Kwant aufbaut: ein selbst im Sitzen bewegter Mann, dessen Jovialität und Naivität nah an die Dunkelzonen des Verdrucksten gebaut sind.

Mit Gattin Anna (gewitzt: Lara Haucke) verbindet Theo ein unerfüllter Kinderwunsch, ansonsten gelüstet’s ihn nach Kollegin Sabrina (Nina Mohr) – ein Ehedrama, ganz menschlich, ganz undigital, nur angestupft, kaum ausgeführt. Denn es geht ja ums große Online-Ganze. Um Technik, die zur absoluten Herrschaft wird, die jede Privatsphäre kontrolliert. Deshalb zeigt Marion Eiseles Bühnenbild eine Dreieckskonstellation mit Theo, Anna und Kwant an der Spitze – samt Schattenwürfen an die Rückwand. Löhles Methode aber, den Digitalisierungsprozess in analogem Gewand durchzuspielen, borgt ihren Witz von einem Anachronismus à la „Familie Feuerstein“. Herr Kwant tritt an die Stelle der Tiere, die in der Trickserie als technische Apparate herhalten.

Das Stück endet im Kurzschluss

So erfahren wir mit und durch Herrn Kwant, was wir längst wissen: dass Digitalisierung Arbeitsplätze vernichtet, an erster Stelle den des Lexikonautors Theo, der samt seiner Chefin (Gesine Hannemann als giftige Büroschlange) von der Wikipedia-Zukunft ausgelöscht wird; dass Online Pornografie ins Haus und Peinliches in alle Welt bringt. Keine Diskretion verbirgt, wer im Aufzug furzt (Theo) und wer mit dem Sofakissen masturbiert (Anna). Beziehungsdesign und Kinderwunscherfüllung, Trennung und ein Baby Kwant gehen Hand in Hand.

Was einem allerdings altbekannt vorkommt: Löhles Stück endet im Kurzschluss von löblicher Digitalisierungsskepsis und Recycling des Absurditäten- und Weltverschwörungstheaters der 50er Jahre. Dass sich schlussendlich das ganze Ensemble außer Theo in Herren Kwant verwandelt, wirkt wie die herbeizitierte Masche von Ionescos „Nashörnern“. Im Resultat zerfasert der Text trotz aller Regiekünste zu spannungslosem Nummernkabarett. „Eine Idiotie“ hat Löhle unter den Stücktitel geschrieben. Man kann es als bissige Volte deuten: zwecklos, gegen die Digitalisierung anzuschreiben. Zwecklos? Mit den Theaterrezepten von vorgestern: ja.

Nächste Vorstellung am 18. Juli 2020