Von vier Abi-Lektüren stammen drei von Männern. Lehrerin Birgit Hecht vom Robert-Bosch-Gymnasium Gerlingen würde gern mehr Autorinnen mit ihrem Deutsch-Leistungskurs lesen. Foto: Simon Granville

Goethe, Schiller, Kafka, Mann – die Lektüren im Gymnasium kommen vor allem von männlichen Autoren. Warum das so ist, und ob sich das ändern müsste.

Wie wirkt dieser Karl Roßmann? „Jung und naiv“, sagt Anna. „Wenig markant“, sagt Jasper. „Ein wenig dümmlich“, sagt James. Lehrerin Birgit Hecht notiert die Begriffe auf der Folie, die ein Beamer an die Wand wirft. Auf dem Stundenplan ihres Deutsch-LK am Robert-Bosch-Gymnasium in Gerlingen steht Franz Kafkas „Der Verschollene“. Heute charakterisieren sie die Hauptfigur: aus Prag ist der junge Mann, bürgerliches Milieu, Klavierunterricht, hat kräftiges Haar und ein „ansprechendes Äußeres“. Er ist inkonsequent, pflichtbewusst, hilfsbereit, aber es mangelt ihm auch an Selbstkritik. 17 Jahre ist er alt, so alt wie die meisten im Klassenzimmer. Damit erfüllt Karl Roßmann zumindest ein Kriterium, das Birgit Hecht an eine gute Schullektüre anlegt. Sie knüpft an die Lebenswelt der jungen Leser an.

Drei von vier Sternchenthemen sind von Männern geschrieben

Was der Deutschlehrerin weniger gefällt: Karl Roßmann ist schon die dritte männliche Hauptfigur in der dritten von einem Mann geschriebenen Pflichtlektüre, mit der sich ihre Abiturienten beschäftigen. Zuvor lasen sie „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ von Thomas Mann und „Woyzeck“ von Georg Büchner. Mit Juli Zehs „Corpus Delicti“ immerhin auch eine Autorin. Sie ist die erste Frau unter den sogenannten Sternchenthemen in Baden-Württemberg seit mehreren Jahrzehnten.

„Und das fängt ja nicht erst im Abitur an“, sagt Birgit Hecht. Auch die Mittelstufe ist voller Männer wie Heinrich von Kleist, Theodor Fontane, Max Frisch, Heinrich Böll, Günter Grass oder Hermann Hesse. Wer das Gymnasium durchlaufe, lerne nur selten den weiblichen Blick aufs Leben und die Welt, aber auch weibliche Schaffenskraft, Formulierkunst und literarisches Vermögen kennen, sagt Birgit Hecht.

Die Lehrkraft kann das Buch auswählen

Jan Wohlgemuth vom Referat Allgemeinbildende Gymnasien im Kultusministerium kennt diese Klagen. Ihn erreichen immer wieder Briefe von Schülerinnen und Schülern, die fragen, warum sie nicht mehr Autorinnen kennenlernen.

Bis zu den Abiturthemen für 2023 legte laut Wohlgemuth eine Kommission aus Lehrkräften die Sternchenthemen fest. Ab 2024 werden diese erstmals zentral für alle Bundesländer vom Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) in Berlin ausgewählt. Das IQB hat auch für die kommenden Abiturjahrgänge Juli Zeh mit „Corpus Delicti“ auf die Liste gesetzt. 2026 wird diese von Jenny Erpenbeck mit dem Roman „Heimsuchung“ abgelöst.

Was die Lektüren in Unter- und Mittelstufe anbelangt, betont Jan Wohlgemuth, dass der Bildungsplan lediglich Epochen und Themen nenne. Welche Titel gelesen werde, entscheide die Lehrkraft. Allerdings weiß auch Wohlgemuth, dass eine Empfehlungsliste für die Gymnasien kursiert. Sie ist fast 20 Jahre alt und stammt vom damaligen Landesinstitut für Schulentwicklung Baden-Württemberg. Von den empfohlenen rund 240 Werken stammt nur knapp jedes zehnte von einer Frau.

Das kulturelle Gedächtnis scheint von Männern gefüllt

Die Liste gliedert sich in verschiedene Themenbereiche. Unter der Kategorie „Versuche weiblicher Identitätsfindung“ beispielsweise werden neun Bücher von Männern und sechs von Frauen empfohlen, in der Rubrik „Von Söhnen und Töchtern: Familienverhältnisse“ taucht mit Birgit Vanderbeke eine Schriftstellerin auf. Unter den Überschriften „Recht und Gerechtigkeit“, „Alltag und Abenteuer“ oder „Zwischen Ernst und Komik“ war für die Urheber kein Werk einer Frau empfehlenswert.

Die Autorenliste solle Schülerinnen und Schüler mit Werken bekannt machen, die „das kulturelle Gedächtnis der Lesegemeinschaft ausmachen“, heißt es in der Einführung. Nimmt man die Empfehlungen ernst, so scheint dieses kulturelle Gedächtnis fast ausschließlich von Männern geprägt zu sein. Ob eine neue Empfehlungsliste mit mehr Frauen geplant sei, dazu kann Wohlgemuth nichts sagen. Aber das Thema Geschlechtergerechtigkeit in der Lektüreauswahl sei durchaus im „Horizont des Referats“.

Verlage stellen Material für das, was gelesen wird

Natürlich weiß auch Birgit Hecht, dass sie die Titel in der Unter- und Mittelstufe frei wählen und auch in der Kursstufe zusätzliche Bücher lesen könnte. Allerdings brauche sie dafür geeignete Ausgaben und Unterrichtsmaterial. Allein einen Roman für die Schule aufzubereiten sei zeitlich kaum zu leisten, sagt Hecht. Die Verlage für Schulmaterial allerdings bieten solches überwiegend zu dem in den Schulen seit je gelesenen Kanon an. Eine Art Teufelskreis.

Aber ist der Schulkanon nicht auch deshalb männlich dominiert, weil es keine geeigneten Werke von Frauen gibt? Diesem oft vorgebrachten Argument widerspricht die Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert. In ihrem 2021 erschienenen Buch „Frauenliteratur – abgewertet, vergessen, wiederentdeckt“ weist sie nach, dass in jeder Epoche hochwertige Werke von Frauen vorlagen, diese aber teils vom männlichen Literaturbetrieb abgewertet und nicht weiter verlegt wurden.

Wurde Literatur von Frauen abgewertet?

Sie zeigt das unter anderem am Roman „Aus guter Familie“ von Gabriele Reuter, der 1895 und damit zeitgleich zu Theodor Fontanes Dauerbrenner „Effi Briest“ erschien. Laut Seifert waren beide Romane große Verkaufserfolge, wurden in ihrer Zeit mehrfach nachgedruckt. Auch das Sujet glich sich. In beiden Büchern geht es um eine junge Frau, die gegen die Vorstellungen, wie eine Frau zu sein und sich zu verhalten habe, verstößt und ausgeschlossen wird.

Dass Fontanes Spätwerk zum Klassiker avancierte, während die Geschichte der jungen Schriftstellerin Reuter ab den 1920er Jahren nicht mehr verlegt wurde, liegt für Nicole Seifert auch in der damaligen Literaturkritik begründet. Reuters Roman sei als „von einer Frau über Frauen für Frauen“ abgewertet worden, dabei sei die literarische Qualität des Textes unbestreitbar.

„Die Kanon“ zeigt herausragende Werke von Autorinnen

Literaturwissenschaftlerinnen wie Seifert gehören zu einer Bewegung, die versucht, vergessene Werke von Frauen in die Gegenwart zu holen und zeitgenössische Autorinnen zu fördern. Unter dem Titel „Die Kanon“ veröffentlicht eine Gruppe Autorinnen um Sibylle Berg Listen mit Werken von Frauen, die ihrer Meinung nach zum Kanon gehören sollten. Ihr zentrales Argument: Die literarische Weltsicht aus Frauenhand werde sonst ausgeklammert. Die Frage also, ob sich das Geschlecht in Inhalt und Sichtweise eines Werks widerspiegelt, beantworten sie klar mit Ja.

Auch Birgit Hecht tut das. Frauen würden nicht besser oder schlechter schreiben, aber anders, sagt die Vielleserin, vor allem übers Frausein. Und diesen Blick sollte man gerade Heranwachsenden nicht vorenthalten. Sie nennt als ein Beispiel den Roman „Streulicht“ von Deniz Ohde. Diese beschreibe darin etwa, wie Männer ihrer Hauptfigur auf die Brüste starren und dieser Blick stundenlang an dieser Frau kleben bleibe. „Solche Beschreibungen begegnen mir bei Autoren eher nicht“, sagt die Lehrerin. Vor allem in älteren Werken finde sie Frauen meist nur als Nebenfiguren, beschrieben als Dienende oder Objekt sexueller Begierde.

Woyzeck ist „weird“

Auch ihre LK-Schülerinnen und -Schüler hätten sich gewünscht, im Laufe der Schulzeit mehr Autorinnen kennenzulernen – wobei sie schon zugeben, dass sie erst von ihrer Lehrerin auf die Problematik gestoßen wurden. Wie haben ihnen die Pflichtlektüren gefallen? Anika Rahn fand den Woyzeck einfach „weird“, „Corpus Delicti“ gefiel ihr, weil die Thematik zur Coronakrise passt. Jasper Oberwörder hat den „Hochstapler Felix Krull“ gern gelesen, und James Höss fand es gut, Woyzeck kennenzulernen, weil er das sonst nie getan hätte.

In ihrer Freizeit wählen die jungen Leute Bücher eher nach Genre und Interesse aus denn nach Geschlecht. Zum Beispiel die Fantasyreihe „Six of Crows“, Biografien von Elon Musk und Michelle Obama, historische Romane, John Irvings „Garp“, Liebesromane von Colleen Hoover, Sachbücher von Marietta Slomka. Alle lesen sie viel. Und das ist ja vielleicht ohnehin das Wichtigste.