Wenn „Mad Max“, „Herr der Ringe“, „Star Wars“ und „Tribute von Panem“ aufeinanderprallen: Philip Kochs Science-Fiction-Serie „Tribes of Europa“ ist jetzt auf Netflix gestartet.
Stuttgart/Berlin - Die alte Welt liegt in Trümmern. Europa hat sich im Jahr 2074 in einen Abenteuerspielplatz verwandelt, den der Streamingdienst Netflix für den Filmemacher Philip Koch eingerichtet und ihm erlaubt hat, sich ohne Rücksicht auf Verluste auszutoben. Er darf spektakulär Dinge kaputt schlagen, gewaltige Kämpfe inszenieren, Hightech-Gimmicks, irre Kostüme und seltsame Rituale erfinden – und aus Bauklötzen, die er sich aus Serien, Filmen, Büchern und Videogames geborgt hat, seine eigene Spielwelt zusammenbauen.
Oliver Masucci zitiert „Casablanca“ oder „Terminator“
Eben noch glaubte man die Geschwister Liv, Kiano und Elja als Verwandte der Helden aus „Tribute von Panem“ oder „Divergent“ zu erkennen, da wird schon ihr Stamm in einem „Game of Thrones“-Gemetzel abgeschlachtet. Kaum begeben sich die drei auf „Herr der Ringe“-Heldenreisen, verirrt sich Liv (Henriette Confurius) in einen Kriegsfilm, trifft Elja (David Ali Rashed) auf einen coolen Han-Solo-Typen namens Moses (Oliver Masucci), der ständig „Terminator“ und „Casablanca“ zitiert, und Kiano (Emilio Sakraya) wird in die dekadent-martialische Welt der Crow verschleppt, bei der Pasolinis „Die 120 Tage von Sodom“ auf „Mad Max“ trifft: : Willkommen in der wilden Welt des Philip Koch, der Erfinder und einer der Regisseure der Science-Fiction-Serie „Tribes of Europa“ ist, die seit Freitag bei Netflix zu sehen ist.
Kein Marvel-Comic, kein Bestseller, sondern eine Eigenerfindung
Koch wirkt eher wie einer dieser Teenie-Nerds aus „Stranger Things“, der sich als 39-Jähriger verkleidet hat, denn wie einer, dem ein milliardenschwerer Multi ein teures Vorzeigeprojekt anvertraut. „Nachdem Netflix grünes Licht gegeben hatte, ging alles so schnell, dass keine Zeit blieb, darüber nachzudenken, was ich mir aufgehalst hatte“, gibt er im Zoom-Interview zu. „Im Nachhinein wird mir erst klar, wie mutig auch Netflix war, in so etwas zu investieren – eine Geschichte, die nicht auf einem Marvel-Comic oder einem Bestsellerroman beruht, sondern eine Eigenerfindung ist.“ Er sieht das auf jeden Fall als ein tolles Signal für die Branche und alle, die wie er gerne größer denken. „Ich bin halb Amerikaner und habe deshalb vielleicht dieses Think Big im Blut.“
Im Dezember 2029 kommt der globale Blackout
Tatsächlich scheint alles in seiner Serie eine Nummer größer zu sein. Das reicht von der brutalistischen Architektur eines Weltkriegsmahnmals in Kroatien, das einer der zentralen Schauplätze der Geschichte ist, über die weit ausholenden Handlungsbögen, in die Koch seine Protagonisten verstrickt, bis zu der Weltordnung, die er sich für „Tribes of Europa“ ausgedacht hat: Er hat einen globalen Blackout erfunden, der im Dezember 2029 auf der ganzen Welt das Licht ausknipst – und nicht wieder angehen lässt. Die europäischen Staaten sind zerbröselt, stattdessen kämpfen die Menschen in kleinen Stämmen ums Überleben.
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Die Origines, zu denen Liv, Kiano und Elja gehören, könnten zum Beispiel die Nachfahren der Fridays-of-Future-Bewegung sein und leben als Ökokommune im Einklang mit der Natur. „Wir haben uns bei einem Brainstorming gefragt, welche Systeme oder Gruppierungen in so einem postapokalyptischen Umfeld überleben und sich durchsetzen könnten“, sagt Koch. „Die Crimson Republic ist zum Beispiel aus der fiktiven europäischen Armee hervorgegangen. Und die Crows – das wird in der ersten Staffel aber nur angedeutet – sind aus den Überbleibseln organisierter Kriminalität, aus der russischen Mafia in Berlin entstanden.“
Doch nicht nur Corona hat Koch vorgeführt, dass die Weltordnung nicht ganz so stabil ist, wie man oft glauben will, und dass das Zukunftsszenario, das „Tribes of Europa“ entwirft, vielleicht gar nicht so fantastisch-abwegig ist: „Nachdem wir vor ein paar Wochen im Kapitol in Washington Umstürzler mit völlig lächerlicher Gesichtsbemalung und irrsinnigen Verkleidungen gesehen haben, halte ich das nicht mehr für so unrealistisch“, sagt er. „Angenommen, es käme zu einem globalen Blackout wie in unserer Serie: Was würde dann wohl aus so einer Gruppierung wie den Reichsbürgern werden, wenn die auf einen fanatischen Anführer treffen, in einer Welt, in der man kämpfen muss, um zu überleben?“
Deutschland liebt Young-Adult-Seriendramen
Auf jeden Fall trifft Koch mit der Serie den Zeitgeist. Zum einen, weil derzeit deutsche Young-Adult-Seriendramen im Trend liegen – zeitgleich mit „Tribes of Europa“ auf Netflix hat Amazon Prime „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ veröffentlicht, und im März folgt die Joyn-Originalserie „Katakomben“ und im April bei Magenta TV „Wild Republic“. Zum anderen weil Deutschland endlich sein Herz für Science-Fiction-, Fantasy- und Horrorerzählungen entdeckt hat. „Es gibt inzwischen ein Umdenken, was Genrestoffe aus Deutschland betrifft“, sagt Koch, „die haben es lange Zeit auch im Kino sehr schwer gehabt. Doch jetzt gibt es eine Aufbruchsstimmung.“
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Indem er die erste Staffel von „Tribes of Europa“ mit einem Cliffhanger enden lässt, macht Philip Koch deutlich, dass er als Meister des Größerdenkens seine Geschichte natürlich noch lange nicht zu Ende erzählt hat und unbedingt weiter mit seinen Bauklötzen spielen will – wenn Netflix es erlaubt.
Der Größerdenker und seine Projekte
Person
Der Regisseur, Produzent und Drehbuchautor Philip Koch wurde 1982 in München geboren, seine Karriere begann mit einem Praktikum beim SWR in Baden-Baden. Später studierte er Regie an der Hochschule für Fernsehen und Medien in München.
Filme
Kochs Langfilmdebüt, das Gefängnisdrama „Picco“ (2010), wurde beim Max-Ophüls-Festival ausgezeichnet. Er hat einige „Tatort“-Episoden inszeniert. Mehrfach preisgekrönt wurde sein TV-Film „Play“ (2019) über eine spielsüchtige 17-Jährige.