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Seine Choreografien kennen Ballettfans in aller Welt: Seit 1973 leitet der gebürtige Amerikaner John Neumeier das Hamburg Ballett. Noch immer kennt seine Kreativität keine Grenzen.

StuttgartNatürlich moderiert er seine Geburtstagsgala am kommenden Montag selbst – einerseits macht er das aus hanseatischem Pflichtgefühl, außerdem nimmt er vermutlich an, dass es keiner besser kann als er.

Seit 46 Jahren ist John Neumeier Ballettdirektor in Hamburg – er hat diesen Leitungsposten länger inne als jeder große Choreograf der Vergangenheit, eingeschlossen Marius Petipa und George Balanchine. Mit 160 Balletten, darunter etwa 50 abendfüllende Werke, ist er auch einer der kreativsten Tanzschöpfer. Der Amerikaner aus Milwaukee, der seit seinem 24. Lebensjahr in Deutschland lebt, hat vor allem das erzählende Handlungsballett geprägt, kaum ein anderer seiner Kollegen bringt Dramen, Romane und Sagen derart stringent und augenfällig auf die Bühne. Am 24. Februar wird er 80 Jahre alt.

Wie bei so vielen wichtigen Choreografen begann seine Karriere in Stuttgart: Anstatt von der Londoner Royal Ballet School zurück nach New York zu gehen, ließ sich der junge Amerikaner 1963 von John Cranko in eine deutsche Stadt verpflichten, deren Namen er bis dahin nicht mal kannte (geschweige denn das merkwürdige „Sindelfingen“, in das man ihn gleich am ersten Abend zu einem Gastspiel verschleppte).

Ein intelligenter Tänzer

Der schwarzhaarige junge Mann war ein guter, intelligenter Tänzer, wie Marcia Haydée gerne betont, wahrscheinlich hätte er auch als Solist Karriere gemacht. Aber bald begann er bei den Noverre-Matineen eigene Werke zu choreografieren, hatte Erfolg und ging mit 30 Jahren als Ballettdirektor nach Frankfurt.

August Everding holte ihn dann 1973 nach Hamburg, wo Neumeiers Vertrag seitdem regelmäßig verlängert wird, manchmal mit Grummeln von der modernen Tanzfraktion, ob man nicht doch die Monokultur beenden sollte. Ein wenig bröckelt der über Jahre konstante Zuschauerzuspruch in letzter Zeit, zu wenig fördert das Hamburg Ballett neue Choreografen, zeigt zu wenig andere Werke.

In der Hansestadt hat Neumeier ein wahres Imperium aufgebaut: die Ballettkompanie an der Staatsoper, ein Trainingszentrum mit Ballettschule, das Bundesjugendballett, für das er zusätzliche Gelder beim Bund locker gemacht hat, und schließlich sein Ballettmuseum, in dem er auch wohnt. Neumeier besitzt die weltweit größte Sammlung an Memorabilia über den legendären Tänzer Vaslaw Nijinsky und sammelt auch alles andere über Ballett.

Geradezu missionarisch war er Zeit seines Lebens als Pädagoge unterwegs, erklärt in Vorträgen und Demonstrationen bis heute die Feinheiten seiner Kunst. Neumeier hat so ziemlich alle Preise eingesammelt, die man in der internationalen Tanzwelt bekommen kann. Im Dezember heiratete er seinen langjährigen Lebenspartner, den Herzchirurgen Hermann Reichenspurner.

Stuttgart verdankt Neumeier einen der größten Erfolge des Staatstheaters nach dem zweiten Weltkrieg – die „Kameliendame“ aus dem Jahr 1978 ist ein Ballett für die Ewigkeit und trug fünf Jahre nach John Crankos Tod natürlich dazu bei, die weltberühmte Ballettkompanie am Leben zu erhalten. Auch „Endstation Sehnsucht“, Neumeiers nächste Kreation für die Tanzschauspielerin Marcia Haydée, bewies seinen perfekten Sinn für die Musikauswahl, seine stringente Dramaturgie, seine Bildkraft. Wie so oft schuf er auch hier die komplette Ausstattung selbst. Es folgten der Einakter „Fratres“ und 1990 die wenig erfolgreiche „Medea“. Seitdem hat das Stuttgarter Ballett Werke wie seinen „Othello“ aus Hamburg übernommen, denn Neumeier kreiert großartige Rollen für dramatische Tänzer.

Er ist kein Choreograf der reinen Formen und der eleganten Abstraktion, vielleicht haben ihn deshalb seine Landsleute in den USA nie recht verstanden. „Menschen waren und sind immer noch mein geliebtes Arbeitsmaterial“, sagt der Choreograf, der selbst ein großartiger Tänzerdarsteller war, etwa in Maurice Béjarts „Die Stühle“.

John Neumeier ließ Odysseus und den Messias tanzen, Cinderella und Shakespeares Puck, die kleine Meerjungfrau und Parzival, Peer Gynt und Gustav von Aschenbach. Er choreografierte fast alle Mahler-Symphonien und große religiöse Werke, am herzzerbrechendsten aber vielleicht kristallisiert sich seine Kunst in den Abgründen der Künstlerseele Nijinskys, die er im gleichnamigen Ballett als Trauer über eine verlorene Generation zeigt.