Vor siebzig Jahren starben zehn Heilbronner Schüler und drei Lehrer im Dachstein-Massiv. Die bis heute größte Bergrettungsaktion war vergeblich – die Aufarbeitung der Ereignisse ist immer noch strittig.
Das jährliche Gedenken findet immer am Karfreitag statt, das passt ja auch, wenn es um den unschuldigen Tod von den zehn halbwüchsigen Schülern der Heilbronner Knabenmittelschule (heute Damm-Realschule) und den von drei ihrer Lehrer geht, umgekommen in einem fürchterlichen Schneesturm. Das historisch korrekte Datum für diese Tragödie, in Heilbronn als „Dachstein-Unglück bezeichnet, in Obertraun (Oberösterreich) als „Heilbronner Unglück“ sind die Tage und Wochen nach dem 15. und dem 16. April 1954. Damals fand hier die wohl bisher größte Bergrettungsaktion in der Geschichte der Alpen statt, ein Großeinsatz mit mehr als 400 Helfern, mit Hubschraubern der US-Army und dem zur Legende gewordenen Suchhund „Ajax“.
Zehn Jahre nach Kriegsende bedeutet der Ausflug den „reinen Luxus“
Siebzig Jahre später bricht beim Gedenken an den Gräbern auf dem Heilbronner Hauptfriedhof wieder die alte Schuldfrage auf. Manfred S., 84 Jahre alt, einer der Schulkameraden von damals, verlangt in seiner Rede, die Dinge doch endlich ruhen zu lassen, stellt gleichzeitig dem verantwortlichen Lehrer Hans Seiler das beste Zeugnis aus als geliebt und respektiert von den Schülern. An dessen kumpelhafter Person, einer von der Vergangenheit geprägten „Führungsqualität“ aber scheiden sich die Geister bis heute. So wie auch die Fragen an ihn: Warum hat er nicht auf Warnungen Einheimischer vor dem Wettersturz gehört, warum führte er in solcher Selbstüberschätzung zehn Schüler und zwei junge Kollegen in den Tod. Antworten darauf fallen bis heute unterschiedlich aus.
Die Schüler, zwischen 14 und 16 Jahre alt, hatten zehn Jahre zuvor den Bombenhagel und Feuersturm überlebt, Heilbronn sah damals so aus wie Charkiw heute, nun erfroren sie im Schneesturm am Krippenstein. Zwei Klassen waren nach Obertraun, in eine frühere Sportschule, zu einem Ferienaufenthalt aufgebrochen, damals der „reine Luxus“. In der Kamera eines der Toten fand man einen Film, die Fotos zeigen lachende Gesichter bei der Anfahrt mit der Bahn und die letzten Stunden im Schneesturm.
Sechs Wochen lang wurde das riesige Areal durchsucht
Bergführer vor Ort bringen an ihrem Beispiel bis heute Respekt vor den Bergen bei. Der „Heilbronner Rundwanderweg“ führt vom Krippenstein zur Gjaidalm, vorbei am mahnenden „Heilbronner Kreuz“ und der zum Gedächtnis errichteten Kapelle, das Gelände ist hochalpin. Hinter der Reihe der dreizehn Heilbronner Gräber steht ein großer Findling, das Geschenk von Obertraun. In den gut dokumentierten Aufzeichnungen liest man auch, dass Bundeskanzler Adenauer und Bundespräsident Heuss – 1954 waren die Beziehungen zwischen Deutschland und dem von Hitler annektierten Österreich noch angespannt – sich bei Rettern und Helfern bedankten, ihre Führer das Bundesverdienstkreuz erhielten. Sechs Wochen lang wurde ein riesiges Areal abgesucht, die ersten Opfer fand man nach neun Tagen, 43 Tage später, nach der Schneeschmelze, die letzten beiden. Es war der Lehrer Seiler, er hielt den jüngsten Schüler eng umschlungen.
Die „barmherzige Lüge“ der damaligen Bürgermeister
Die Rede von Manfred S. wühlte viele der anwesenden Schulkameraden und Familienangehörigen auf. So wie den damals mitgereisten Lehrer Hans Bastian, heute 97 Jahre alt. Er hat nichts vergessen. Ihn bedrückt bis heute das Leid der Familien, so wie das einer Kriegerwitwe, die beide Söhne verlor. Eine Rolle spielt immer noch die „barmherzige Lüge“, auf die sich die Bürgermeister beider Städte – der Heilbronner Paul Meyle war sehr rasch vor Ort – geeinigt hatten: Die heftige Wetterlage solle die Verantwortung des Lehrers Hans Georg Seiler vor der Öffentlichkeit, vor allem vor den Eltern, decken. So formulierte es damals der Journalist Curt Albert Müller in der „Stuttgarter Zeitung“.
Gegensätzlich ist unter anderem die Aussage von Kurt Scheffler, heute Ehrenringträger von Heilbronn. Als Schülersprecher war er in die Abläufe der Suche miteinbezogen, kann sie bis heute minutiös schildern. Ihn und viele Klassenkameraden verärgerte die Rede von S. und machte sie sprachlos.
Die Suche nach der Wahrheit dauert bis heute an
Um die Wahrheit kümmern sich bis heute noch viele, zum Beispiel Journalisten in Österreich in Beiträgen, Filmen und einem Roman. 2004 gab Christhard Schrenk, Leiter des Heilbronner Stadtarchivs, eine 200 Seiten starke, gut bebilderte Chronologie heraus, zurückhaltend in der Bewertung. Ganz anders machte es der Heilbronner Doku-Filmer Hajo Baumgärtner. Sechs Jahre recherchierte er, auch vor Ort, für seinen Film von 2014 und das Buch dazu. Für ihn war das Dachstein-Unglück nicht schicksalhaft sondern zwangsläufig, begründet in der Person von Hans Seiler. Auf 175 Seiten Anklage finden sich auch dunkle Stellen in dessen Biografie, unter anderem wie er sich nach den Krieg in Waiblingen in das Lehreramt „hinein gemogelt“ habe. Vaterlos aufgewachsen, von einer problematischen Jugend traumatisiert, damit erklärt er Seilers zwanghaftes Zeigen von Stärke und Führung, ausschlaggebend dafür, die Warnungen Einheimischer zu ignorieren, die Buben in „Knickebockern“ und sich auflösendem Schuhwerk durch knietiefen Schnee bergauf ins Verderben zu schicken, statt sie zurück ins Tal zu bringen.
Vorwurf der Mystifizierung
Baumgärtner ist sich sicher: Heute würde man Seiler vor Gericht stellen. Ihn erzürnt der Mystifizierung der Geschehnisse und dass man jene, die sie hinterfragen, in Heilbronn nicht ins „offizielle“ Gedenken einbezieht. Für den 24. April ist ein solches von und mit Schülern der Dammrealschule geplant, er und andere kritische Autoren sind nicht eingeladen. Er wirft der Stadt vor, jede Aufklärung zu verurteilen, spricht von Zynismus und dass Kritik an ihrem Lehrer (Seiler) „tabu“ sei. Es trifft zu, was er von der Rede bei der Feier sagt: Viele Worte, Mitleid mit dem Lehrer, nicht mit den Kameraden. Man wisse doch, wie wichtig es für die Angehörigen sei, über die Umstände zum Tod ihrer Lieben informiert zu werden „aber in Heilbronn verweigert man es ihnen bis zum heutigen Tag“. Ihm seien die Angehörigen sehr dankbar gewesen, als sie erstmals nach 60 Jahren etwas über die Umstände erfuhren, die zu dem Unglück führten.