„Hotspot“ wider Willen: Allein im österreichischen Skiort Ischgl sollen sich Tausende Menschen mit dem Coronavirus infiziert haben. Foto: dpa/Jakob Gruber

Der Verbraucherschützer Peter Kolba will gegen das Land Tirol klagen. Tausende Corona-Infektionen hätten verhindert werden können, sagt er. Mehr als 6000 Geschädigte aus 47 Ländern haben sich bei ihm gemeldet.

Ischgl/Wien - Der Ton der Nachricht ist vertraut. Man kennt sich schließlich. Der Inhalt klingt jedoch arg verzweifelt. „Lieber Peter, ruf mich bitte zurück oder sperr deine Kitz Bar zu – oder willst Du schuld am Ende der Saison in Ischgl und eventuell Tirol sein“, schreibt Franz Hörl, ÖVP-Nationalrat, Hotelier und Obmann des Fachverbands der Seilbahnwirtschaft, am 9. März an den Betreiber der Après-Ski-Bar Kitzloch, Peter Zangerl. Denn dort wird noch fröhlich gefeiert, als längst klar ist, dass Ischgl gerade dabei ist, halb Europa mit Corona zu infizieren. Doch die Party geht noch Tage weiter.

Das soll nun juristisch aufgearbeitet werden, fordert Peter Kolba, Chef des österreichischen Verbraucherschutzvereins (VSV). Der 61-jährige Jurist hat bereits Ende März Strafanzeige gegen den Tiroler Landeshauptmann Günther Platter, Landesrat Bernhard Tilg, Landessanitätsdirektor Franz Katzgraber, die Bürgermeister von Ischgl und Sölden sowie die örtlichen Seilbahngesellschaften gestellt. Der Vorwurf: Herstellung einer Gemeingefahr, Verbreiten einer meldepflichtigen Krankheit sowie Amtsmissbrauch durch Untätigkeit.

Ein Drittel der Corona-Fälle in Dänemark ist auf Ischgl zurückzuführen

„Wenn die Behörden schneller reagiert hätten, hätte es Tausende Infektionen weniger gegeben“, sagt Kolba. Unter dem Einfluss der allmächtigen Tourismusindustrie habe das Land Tirol „zu spät gewarnt, zu spät geschlossen, zu spät geräumt“. Oder wie die österreichische Zeitung „Der Standard“ kommentierte: „Die Gier hat die Verantwortung für die Gesundheit der Bürger und der Gäste besiegt. Man wollte diese letzte starke Touristenwoche noch ‚mitnehmen‘, auf dass die Kassen der Liftbetreiber und Hoteliers klingeln.“ Hinzu kommt, dass die zahlreichen Skitouristen regelrecht hinauskomplimentiert wurden und ungetestet abreisten – und das Virus dadurch in halb Europa verbreiteten. So zeigen Daten vom 20. März, dass allein ein Drittel der Corona-Fälle in Dänemark auf Ischgl-Urlauber zurückzuführen ist.

„Es geht darum, die Verantwortlichkeiten zu klären“, erklärt Kolba, „aber das wird schwierig, weil schon jetzt alle anfangen sich gegenseitig zu beschuldigen.“ Große Hoffnungen setzt Kolba in die Innsbrucker Staatsanwaltschaft ohnehin nicht – zu verwoben seien Politik und Tourismusindustrie in Tirol, zu verfilzt. „In Tirol hat die Tourismusindustrie die Macht.“

In Tirol hat die Tourismusindustrie das Sagen

Genauer gesagt die sogenannte Adlerrunde – eine Vereinigung von 49 Unternehmern, die der regierenden ÖVP fleißig Geld spendet, dafür aber auch Ansprüche anmeldet. Zwar habe die Staatsanwaltschaft Innsbruck stolz einen 1000-Seiten-Zwischenbericht präsentiert, doch der bestehe letztlich aus 15 Seiten Berichten und 985 Seiten Beilagen: „Da wurden einfach Verordnungen oder die Seite des Robert-Koch-Instituts kopiert.“ Aufklärungswille sieht anders aus. Daher werde er sich noch diese Woche darum bemühen, dass die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft in Wien den Fall übernimmt.

Gleichzeitig bereitet Kolba eine Sammelklage gegen Österreich vor. Simbabwe, Norwegen, Singapur, Australien: Mehr als 6000 Geschädigte aus 47 Ländern hätten sich gemeldet, allein 4000 aus Deutschland. Die meisten wollen sich in Ischgl infiziert haben.

Kolba hofft auf mindestens fünf Millionen Euro Schadensersatz

Nach Angaben des Regierungspräsidiums Stuttgart steckten sich allein 101 Baden-Württemberger in Ischgl an oder wurden von Heimkehrern infiziert. Auch der Schorndorfer Oberbürgermeister Matthias Klopfer kehrte mit Corona aus Ischgl zurück. Er begrüße es, dass die Vorkommnisse aufgeklärt würden, betont Klopfer. Er selbst werde sich an der Sammelklage aber nicht beteiligen. Er habe schließlich keine Schäden davongetragen. Dennoch ist auch Klopfer überzeugt, dass in Ischgl Profit vor Gesundheit ging. Mit fatalen Folgen: Laut Kolba lassen sich 27 Corona-Tote auf Ischgl zurückführen.

Bislang wollen sich 700 Geschädigte der geplanten Sammelklage anschließen, 300 Betroffene, die über eine Rechtsschutzversicherung verfügen, planen mithilfe des österreichischen Verbraucherschutzvereins eigene Klagen. Sobald ein Prozessfinanzierer gefunden sei, gehe es los, aller Voraussicht nach noch in diesem Herbst. Kolba hofft auf mindestens fünf Millionen Euro Schadenersatz – oder auf einen außergerichtlichen Vergleich wie im Falle der Brandkatastrophe der Gletscherbahn in Kaprun vor 20 Jahren mit 155 Toten. Damals wurden vor Gericht alle Angeklagten freigesprochen. Erst mithilfe einer Vermittlungskommission bekamen die Hinterbliebenen am Ende 13,9 Millionen Euro Schadenersatz zugesprochen.

Von der Partyhochburg zur Virenschleuder

25. Februar:
Der erste Corona-Fall in Tirol: Eine italienische Hotelangestellte steckt sich im Urlaub in der Lombardei an, das Grand Hotel Europa in Innsbruck wird daraufhin abgeriegelt, Quarantäne verhängt, das restliche Personal – negativ – auf Corona getestet.

4. März
: Island erklärt Ischgl zur Gefahrenzone, nachdem sich acht Isländer in dem österreichischen Skiort mit Corona infiziert hatten. Tags darauf gibt Island eine Reisewarnung für Ischgl heraus, die Zahl der dort infizierten Isländer steigt derweil auf 15.

7. März:
Ischgl meldet den ersten Corona-Fall – einen 36-jährigen Barkeeper des Kitzloch. Später stellt sich heraus, dass es in der Bar bereits Anfang Februar erste Fälle gab. Die Barbesatzung geht in Quarantäne, das Lokal wird desinfiziert und mit einer Ersatzcrew wieder geöffnet. Die Party geht weiter.

8. März:
„Eine Übertragung des Coronavirus auf Gäste der Bar ist aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich“, erklärt die Tiroler Landessanitätsdirektion. Norwegen zählt 500 Corona-Fälle, die auf Österreich zurückzuführen sind, die meisten auf Ischgl.

9. März:
Tests ergeben, dass der Barkeeper 15 Menschen aus seinem Umfeld angesteckt hat. Das Kitzloch wird geschlossen.

10. März:
Das Land Tirol schließt die restlichen Après-Ski-Lokale in Ischgl, auf eine Quarantäne wird verzichtet.

12. März:
Tirol gibt das vorzeitige Ende der Skisaison bekannt, es dauert allerdings noch drei Tage, bis auch wirklich alle Seilbahnen und Skilifte stillstehen.

13. März:
Österreich erklärt Ischgl und das Paznauntal sowie St. Anton am Arlberg zum Risikogebiet und verhängt eine Quarantäne. Die Gäste reisen unkontrolliert ab – ohne zuvor getestet worden zu sein.

16. März:
Der Tiroler Landesrat Bernhard Tilg erklärt im ORF geschlagene elfmal: „Die Behörden haben alles richtig gemacht.“

18. März:
Tirol stellt alle 279 Gemeinden unter Quarantäne. Bayern schließt die Grenze nach Tirol.