Volle Cafés, pulsierendes Leben wie hier in Malmö: Schweden geht anders mit der Coronakrise um Foto: dpa/Ludvig Thunman

Zwar liegt die Todeszahl je 100 000 Einwohner deutlich höher als in Nachbarländern oder Deutschland. Schweden hält die Strategie ohne Kontaktsperren und mit offenen Schulen jedoch weiterhin für richtig.

Stockholm - Die Bilder von vollen Cafés und Bars gingen um die Welt. Während andernorts kriegszustandsmäßige Beschränkungen mit Ausgangsverboten und Grenzschließungen verhangen wurden, um das einfallende Coronavirus einzudämmen, setzten die Schweden selbstbewusst und unbeirrt auf freiwilliges Verantwortungsbewusstsein.

Fast alles blieb erlaubt und geöffnet. Alle Geschäfte, Schulen bis einschließlich der 9. Klasse, Kindergärten, Büros, Bars, Restaurants, Fitnessstudios, Büchereien und gar einige Kinos. Noch bis 29. März durften 500 Menschen zusammenkommen. Bis heute sind es maximal 50. Dies und ein Besuchsverbot in Altenheimen waren die einzigen Restriktionen.

Keine Abkehr vom freiwilligen Weg

Stattdessen wurde das Händewaschen und das Zuhausebleiben bei leichten Symptomen dringend empfohlen. Leere U-Bahnen und Stadtteile in Stockholm und die Auswertung von GPS-Handydaten zeigten, dass sich die meisten an die Empfehlungen hielten. Eine Abkehr vom freiwilligen Weg, hinter dem, neben der derzeit im Umfragehoch schwelgenden schwedischen Regierung, auch die Opposition und die absolute Mehrheit der Schweden steht, ist nicht in Sicht.

Während im Ausland derzeit mancherorts vom dramatischen Scheitern des schwedischen Sonderweges die Rede ist, gibt es in Schweden selbst nur vereinzelte, wenn dann auch scharfe Kritik. Vor allem eine Gruppe schwedischer Wissenschaftler kritisierte den Sonderweg in einem Zeitungsartikel. Doch sie verbrannten sich die Finger daran, dass sie offenbar mit falschem Zahlenmaterial argumentierten.

Die Corona-Todeszahlen im 10,2 Millionen Einwohner zählenden Schweden ist mit 4125 (Dienstag) tatsächlich deutlich höher, gemessen an der Bevölkerungsgröße, als in den nordischen Nachbarländern und in Deutschland.

Staats-Epidemiologe Tegnell: Lockdown hätte nichts geändert

Laut der Johns-Hopkins-Universität liegt die Quote für 100 000 Einwohner in Schweden bei 39,57 Toten. In Deutschland sind es nur 10,02 in Dänemark 9,7 und in Norwegen 4,42. Die Ex-Staatsepidemiologin Annika Linde kritisierte deshalb, man hätte schnell ein Kontaktverbot erlassen müssen, um Zeit zu haben, notwendige Vorkehrungen für die besonders gefährdeten Risikogruppen zu treffen.

Ihr Nachfolger, Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell, entgegnet, dass ein genereller Lockdown die Todesrate nicht vermindert hätte. So seien die Zahlen in Lockdownländern wie Spanien oder Großbritannien höher als in Schweden. Es gebe zudem zu viele Zufallsfaktoren wie bestimmte Hotspots und „Superspreader“-Ereignisse bei denen sich besonders viele Menschen schnell ansteckten, unabhängig von der Strategie des Landes. Eine bessere Kennziffer für die Pandemie sei die Anzahl der Intensivstationspatienten, so Tegnell.

Altenheime sind die Schwachstelle

Die ist in Schweden seit Wochen rückläufig. Es gehe vor allem um punktuelle Schwachstellen, so Tegnell. Etwa um die Altenheime. Rund die Hälfte der Toten wurden dort gemeldet. Man sei daran gescheitert, diese Einrichtungen ausreichend zu schützen, so Tegnell. „Die Gesundheitsbehörde betreibt aber nicht die Altenpflege. Im Grund geht es da um Dinge die permanent funktionieren müssen, auch wenn es keine Pandemie gibt, etwa basale Hygieneregeln“, so Vizestaatsepidemiologe Anders Wallensten.

Schwedens Altenpflege steht nach Kürzungen und Privatisierungen schon seit Jahren in der Kritik. Vor allem sozial schwache Zeitarbeiter ohne feste Anstellungen hätten das Virus in die Heime eingeschleust, weil sie nicht auf ihren Stundenlohn verzichten wollten. Eine Untersuchungskommission wurde eingesetzt.

Der WHO-Nothilfedirektor Michael Ryander erklärt, Länder mit strengeren Verboten hätten ähnliche Probleme: „Das muss genau untersucht werden. Unsere Alten sterben in ganz Europa. Schwedens Art zu reagieren kann ein Modell dafür sein, wie man einer Pandemie begegnet.“