Die Schlange gehört zu dem neuen Laden Zeit für Brot am Calwer Platz wie drinnen die beliebte Zimtschnecke. Foto: /ubo

Wann immer man zur Calwer Passage kommt – die Schlange ist schon da. Während etlichen Bäckereien in der Energiekrise die Insolvenz droht, brummt ein hipper Brotladen. Auf den Spuren eines Phänomens im neuen Viertel.

Für Schnelligkeit ist die Schnecke nicht gerade berühmt. Wer ran an die Zimtschnecke will, die zum Megahit an der neu eröffneten Calwer Passage geworden ist, sollte es nicht eilig haben. Geduld muss man schon mitbringen, bis man’s nach vorn an die Theke der Biokette Zeit für Brot schafft.

Typisch fürs wachgeküsste Viertel, das im 15. Jahrhundert als „obere und reiche Vorstadt“ angelegt worden ist und seitdem ein Auf und Ab erlebt hat, ist neuerdings die Menschenschlange genauso wie die üppige Pflanzenpracht an der Fassade. Was als bundesweites Pionierprojekt des grünen Stadtbaus gilt, von Eigentümer Ferdinand Piëch initiiert, lockt Architekten, Stadtplaner, Selfiefotografen an – aber auch Naschkatzen, die ohne Zusatzstoffe genießen wollen.

In vielen Bäckereien heißt es: Alarmstufe Brot!

Zimtschnecken, Walnuss-Ahorn-Schnecken, Marzipanschnecken – nicht rund sind die bei Zeit für Brot, sie sind hoch, viereckig und vor allem sehr lecker. 3,60 Euro kostet das Stück, was kein Schnäppchen ist. Das normale Brötchen gibt’s für 70 Cent.

Viele Fans nehmen dafür langes Warten in Kauf. Alarmstufe Brot! Während Meldungen vom „Bäckereisterben“ aufschrecken und die steigenden Kosten immer noch mehr Insolvenzen verursachen, ist der Ofen nicht überall aus. Backkultur zu höheren Preisen setzt sich durch, wenn was als hip gilt. In Stuttgart gibt es wohl viele, die sich das leisten wollen und können. Die Calwer Passage, die Ende der 1970er schon mal ein schickes Zentrum mit internationalem Flair war, scheint der richtige Ort für Genießer zu sein – auch Feinkost Böhm, ebenfalls kein Schnäppchen-Paradies, dafür aber qualitätsvoll, hat sich hier angesiedelt.

„Mehl, Wasser, Salz – der Rest ist Arbeit“

Von Brötchen und Brezeln, die mit der Industrie-Backmischung vollautomatisch aus dem Backofen springen, hatte Zeit-für-Brot-Erfinder Björn Schwind genug, der aus einer Bäckerfamilie stammt und 2009 seine erste Mehlwerkstatt in Bioland-Qualität in Frankfurt eröffnete. Nach Berlin, Hamburg, Darmstadt ist Stuttgart dran. Das Motto lautet: „Mehl, Wasser, Salz – der Rest ist Arbeit.“

Wo verkauft wird, wird auch gebacken. Durch Scheiben kann man den Bäckern zuschauen, die in der Nachtschicht bereits um Mitternacht anrücken und bis morgens den Teig kneten und die Öfen füllen. Weil es so überragend gut läuft am Calwer Platz, wollen die Betreiber bald die Öffnungszeiten verlängern. Von Dezember an bleibt Zeit für Brot bis 20 Uhr geöffnet, sonntags bis 19 Uhr.

Der Zugang zur S-Bahn-Haltestelle, direkt neben dem Laden, ist noch gar nicht geöffnet, da wird immer noch gearbeitet. Sobald auch dieser Bauabschnitt fertig ist, werden sich die Passantenströme noch weiter erhöhen.

„Des muss sich no auslommeln“

Zeit für Brot ist ein erster Magnet für das ehrgeizige Viertel, das sich genau dort befindet, wo sich die geografische Mitte von Stuttgart befindet. Ein Schild auf dem Boden weist auf diese Besonderheit hin. Wird dieser Platz zu einer neuen Mitte der Stadt auch zum Ausgehen und Shoppen? Wir haben uns zur After-Work-Zeit am frühen Abend umgesehen.

In der Brotschlange sehen wir bei unsrem Besuch vor allem Frauen, von denen kaum eine älter sein dürfte als vierzig. Auch alle Sitzplätze drinnen sind belegt. Gut besucht ist wenige Schritte weiter ebenfalls das neue Bistro von Feinkost Böhm, wo sich vergnügte Rosé-Sekt-Runden treffen – dort ist der Altersschnitt etwas höher. Ein junger Kellner drückt und drückt, um von der chromblitzenden Espresso-Maschine ein Sieb abzubekommen, das nicht mitmachen will. Geht noch alles sehr schwer, weil noch alles sehr neu ist. „Des muss sich no auslommeln“, sagt eine Frau, die das beobachtet.

Gesund, vegan und hip in der Calwer Passage

Für neue Urbanität will in der Passage auch To Je To sorgen, bei der es sich laut Eigenwerbung um die „erste Blow-Dry-Bar im Herzen Stuttgarts“ handelt. Beim Haarstyling kann man Champagner trinken oder sich Meze schmecken lassen. In der Bar Another Milk gibt’s acht Sorten von Milchersatz. Der vegane Trend spiegelt sich in der unter Denkmalschutz stehenden Einkaufspassage wider, in der nicht alles fertig geworden ist. „Coming Soon“ steht beim Hanf-Fachgeschäft Planty Reasons, der „kein holländischer Coffeeshop“ werden soll, sondern Hanf mit Produkten für Beauty und Medizin bietet.

Gesund, vegan, hip – so präsentiert sich das Restaurant The Gardener’s Nosh, das laut Homepage ein „Happy place“ ist. „To nosh“ heißt „schnabulieren“. Café, Bar und Suhsi-Restaurant in einem ist das Okyu, in dessen Außenbereich die After-Work-Runde schließlich strandet. Von hier hat man einen guten Blick aufs Zeit-für-Brot-Phänomen.

Fazit: Das neue Viertel hat Anziehungspunkte, die es so sonst nicht in Stuttgart gibt. Weitere Läden und Bars folgen. Der Fortschritt mag eine Schnecke sein. Ist nicht schlecht, wenn man mal einen Gang runterschalten und die Tradition genießen kann.