Bei der Cirque-du-Soleil-Show „Corteo“ erlebt das Publikum eine perfekte Hochglanz-Darbietung. Hinter der Bühne gleicht die Produktion jedoch einem wuseligen Dorf. Ein Blick hinter die Kulissen der Zirkus-Show, die in der Porsche-Arena in Stuttgart gastiert.
Scheinbar mühelos steigt Roman Minem die acht Sprossen seiner Leiter empor. Das Besondere: sie lehnt weder an einer Wand, noch an einem Baum. Sie steht einfach auf dem Boden – oben angekommen wandert Minem in drei Metern Höhe scheinbar mühelos kreuz und quer über die Bühne. Er ist nur eine von vielen Attraktionen, mit der der Cirque du Soleil in dieser Woche noch bis Sonntag mit seiner Show „Corteo“ in der Stuttgarter Porsche-Arena gastiert. Nach der Anreise am Montag und zwölf Stunden Aufbau mit rund 100 lokalen Bühnenhelfern wird am Mittwochvormittag zum ersten Mal in der Arena geprobt.
Lachen, Staunen, tiefe Emotionen – das will der Cirque du Soleil vermitteln
Insgesamt 120 Menschen aus 28 Ländern umfasst der Tross, der noch bis April kommenden Jahres in Europa unterwegs ist, darunter 53 Artisten und 34 Techniker. Manche von ihnen sind seit der ersten Stunde dabei, seit Corteo 2005 in Montreal seine Premiere feierte. Corteo, auf Italienisch „Umzug“, bezeichnet eine fröhliche Prozession, eine festliche Parade, die sich in der Fantasie eines Clowns abspielt. Der Clown erlebt das Ende seiner Zeit auf Erden in einer karnevalsartigen Atmosphäre, während über allem mitfühlende Engel wachen – alles inszeniert in einer barocken und spektakulären Zirkus-Artistik. Mehr als zehn Millionen Besucher weltweit haben die Show, die aus der Feder des Schweizers Daniele Finzi Pasca stammt, in den vergangenen 19 Jahren gesehen.
Lachen, Staunen, tiefe Emotionen – das will der Cirque du Soleil seinem Publikum vermitteln. Während die Zuschauer in den neun Vorstellungen eine perfekte Hochglanz-Show erleben, gleicht die Produktion hinter der Manege einem kleinen Dorf. Die gesamte Ausstattung samt Bühne, Vorhängen und Kostümen wird in 500 Transportkisten auf 24 Lastwagen durch ganz Europa transportiert. Corteo ist die erste Show des Cirque du Soleil mit einer zu zwei gegenüberliegenden Seiten ausgerichteten drehbaren Bühne. Herzstück ist die 40 Meter lange und 27 Tonnen schwere Stahlkonstruktion, die die Bühne in gut zwölfeinhalb Metern überspannt und an der sowohl szenische Elemente wie auch die akrobatische Ausrüstung bewegt werden kann.
Bei der Probe am Mittag unter dem grellweißen Hallenlicht kann man die Zirkusstimmung allenfalls erahnen. Artistinnen verbiegen sich, Trainer beraten sich, Bühnentechniker manövrieren. Zwischendurch huschen Reinigungskräfte über die Bühne. Der Boden muss glänzen und darf weder stumpf noch zu glatt sein. Hinter den Kulissen und Vorhängen werkeln Licht- und Tontechniker, Choreografen, Physiotherapeuten, Köche und Kostümbildnerinnen. Alles ist erstaunlich still und gelassen, dennoch konzentriert. In den Katakomben der Porsche-Arena sind neun Waschmaschinen und Trockner aufgebaut, die nahezu rund um die Uhr in Betrieb sind. Im mobilen Waschsalon können alle ihre Trainingskleidung, Kostüme und privaten Klamotten waschen.
Die 175 Kostüme für die Show bestehen aus 2500 Einzelteilen, wie Schuhen, Hüten und allerlei anderen Accessoires – allesamt selbst hergestellt in den eigenen Werkstätten des Cirque du Soleil im kanadischen Montreal. Zwischen zwei und sieben Kostümwechsel absolviert jeder Künstler pro Show. Am Abend ist alles akkurat auf Kleiderständern mit Namensschildern verteilt und in den Umkleidebereichen an beiden Seiten der Bühne bereit. Dazwischen sieht es mal aus wie in einem Fitnessstudio mit Turnmatten, Gewichthebestation und Turnbänken und mal wie in einem Möbellager mit Requisiten vom Kleiderschrank über riesige Kronleuchter, die als eine Art Trapez dienen, Fahrräder bis hin zu einem Bett. Doch was aussieht wie ein Bett, ist in Wirklichkeit ein großes Trampolin – der heimliche Traum vieler Kinder fürs eigenen Zimmer. Ähnlich einem Automechaniker können die Artisten auf dem Rücken auf einem Art Skateboard liegend auch während der Show unter der Bühne in zwei Verbindungsgängen von der einen auf die andere Seite wechseln.
Bis zu vier Stunden pro Tag trainieren die Artisten, feilen an ihren Stunts. Was in der Show so spielerisch leicht erscheint, erfordert tagtäglich viel Arbeit und hartes Training. Dafür, dass am Abend alles glatt läuft, ist Olaf Triebel verantwortlich. Der 44-Jährige aus Hagen ist seit Februar künstlerischer Direktor von Corteo. 20 Jahre lang stand er als Handstand-Akrobat selbst beim Cirque du Soleil auf der Bühne, ehe er sich vor acht Jahren als Regisseur und Choreograf weiterentwickelt hat. „Meine Aufgabe ist es, am Abend immer die beste Show zu gewährleisten“, fast er seine Rolle zusammen. Dazwischen muss er neue Artisten casten, mit den Akrobaten neue Sachen ausprobieren und die Verbindung zwischen der reisenden Show und und dem Hauptquartier in Montreal halten. Triebel bezeichnet die Show als „lebendigen Organismus“, der sich immer weiterentwickelt. Dabei ist auch Improvisation gefragt: „Wenn ein bis zwei Leute im Team ausfallen, können wir das immer kompensieren. Viele Künstler beherrschen mehrere Disziplinen.“ Corteo sei eine „sehr menschliche Show“, bei der das Publikum durch die offene Bühne viel näher am Geschehen sitzt und die Auftritte ein Stück weit aus der Perspektive der Artisten erlebt.
Alle Artisten müssen ins Trainingslager nach Montreal
Wie immer beim Cirque du Soleil wird die Musik live gespielt. Das Besondere bei Corteo: die achtköpfige Band verteilt sich auf vier Bühnen – die Musiker können sich nur über das Gehör verständigen, haben keinen Blickkontakt. Damit das gelingt, mussten sie in einem dunklen Raum proben, um sich ganz auf das aufeinander hören zu konzentrieren.
53 verschiedene Produktionen hat der Cirque du soleil seit seiner Gründung 1984 auf die Bühne gebracht, derzeit sind 18 Shows weltweit auf Tour. Die Künstler entstammen in der Regel entweder dem Kunstturnen oder Kunstspringen, der Sportgymnastik oder Akrobatik, dem Zirkus oder dem Tanz. Alle Artisten müssen zu Beginn ihres Engagements für drei bis vier Monate ins Hauptquartier des Cirque du Soleil nach Montreal, ins Trainingslager sozusagen. Dort lernen sie nicht nur ihre Rolle und ihre akrobatischen Kunststücke. Die Kostüme werden maßgeschneidert und jeder Darsteller muss lernen, sich vor einem Auftritt selbst zu schminken. Dafür gibt es insgesamt 40 Stunden Schmink-Ausbildung. Die Lektionen bei der Stylistin gehören während der Probephase ebenso zum Programm wie Tanz- und Schauspielunterricht. Später auf Tournee muss sich jeder selbst in Form bringen und schminken, die mitreisenden Kostüm- und Maskenbildnerinnen legen nur letzte Hand an und achten darauf, dass alles zusammenpasst. Auch Physiotherapeuten und eine eigene medizinische Abteilung beobachtet das Training auf der Tour und achtet darauf, dass es nicht zu Überlastungen kommt und ausreichend Zeit für Rehabilitation bleibt.
Spontan versucht sich Margarita Kolosov mit dem Vertikaltuch
Als Überraschungsgast schaut auch Margarita Kolosov aus Fellbach-Schmiden, Olympia-Vierte bei den Olympischen Spielen von Paris in der Rhythmischen Sportgymnastik, bei den Proben in der Porsche-Arena vorbei. „Ich fand den Cirque du Soleil schon immer superinteressant“, erzählt die 20-Jährige. „Auch meine Trainerin hat mir immer wieder davon vorgeschwärmt.“ Julija Raskina, heute Trainerin von Kolosov und Olympiasiegerin Daria Varfolomeev am Bundesstützpunkt in Schmiden, war 2005 und 2006 selbst Teil des Ensembles von Corteo. Spontan versucht sich Kolosov mit dem Vertikaltuch („Ich habe das noch nie gemacht“) und in der Jonglage. Zwar gilt ihr Augenmerk vorerst weiter Keulen, Reifen, Ball und Band. „Vielleicht wäre das was, nach der Karriere auf der Turnmatte“, sagt Kolosov jedoch. Für Nachwuchs beim Cirque du Soleil wäre also gesorgt.