Nahkampf für alle: Ein Ausbilder demonstriert einen Fauststoß. Unter _.Nahkampfzentrum._ informieren sie über ihre Arbeit auf Instagram. Foto: /Feyder

Die Bundeswehr hat ihre Ausbildung für den Kampf ohne Waffen völlig neu konzipiert. Im ersten Lehrgang an der Infanterieschule des Heeres starten die kommenden Ausbilder bereits durch.

Hammelburg - Zwei Männer, einer richtet sein Gewehr aus nächster Nähe auf den anderen. Dessen Hände schnellen plötzlich vor, eine packt das Gewehr. Ein Tritt Richtung Unterleib, ein kräftiger Ruck am Gewehr des Angreifers. Der fällt vornüber. Und schon kracht ein Fuß des Angegriffenen unmittelbar neben dem Kopf des Angreifers auf den Boden.

Hätte sich die Szene nicht in der Nahkampfhalle der Infanterieschule im fränkischen Hammelburg abgespielt, sondern im Gefecht, auf das der nagelneue Lehrgang „Nahkampf aller Truppen“ vorbereitet – der Tritt mit dem Kampfstiefel hätte dem Kopf des Angreifers gegolten oder wäre in dessen Nacken gelandet. „Hier geht es darum, dass von einem Angreifer keine Gefahr mehr ausgeht“, sagt Andreas Mohr. Er ist als Hörsaalleiter so etwas wie der Chef im Ring, ist einer der vier Nahkampf-Spezialisten der Schule und einer der Soldaten, die das neue Konzept für diese Ausbildung der Bundeswehr entwickelt haben.

Das sieht so aus: Der Vier-Wochen-Lehrgang, dessen erster Durchgang diese Woche endet, richtet sich vor allem an Feldwebel und Offiziere, die in ihren Einheiten Nahkampf ausbilden sollen und noch mindestens zwei Jahre Dienstzeit vor sich haben. Wobei es generell für die Teilnahme keine formalen Zugangsbeschränkungen gibt. Für den nächsten Durchgang sind auch zwei Soldatinnen und ein 59-jähriger Offizier angemeldet.

Gewinnen, um zu überleben

Zehn weitere Durchgänge sollen im kommenden Jahr folgen. Im Sommer wird – so die Planung – der erste, wesentlich intensivere Kurs für Nahkampf-Lehrer beginnen.

In der Halle nimmt derweil der Prüfungstag seinen Fortgang, an dem jeder der 22 Teilnehmer eine Lehrprobe vor Mohr und den anderen drei Spezialisten der Schule halten muss. Der vorhin Gefällte steht wieder aufrecht, die Gruppe im Kreis. Alle schauen den Kollegen an, dessen Lehr-Kompetenzen gerade getestet werden. Und der erst mal Kritik des Trainers kassiert: „Stellung schlecht, Abstand zu groß. Die eine Hand hat deshalb neben die Waffe gegriffen. Das hätten Sie als Ausbilder direkt ansprechen müssen!“

Die Notwendigkeit für die Bundeswehr, mehr denn je Soldaten mit dem Thema Nahkampf anzusprechen, ergibt sich vor allem aus ihrer Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung. „Im Kampf können Soldaten immer wieder in Situationen geraten, in denen sie ihre Waffen nicht gebrauchen können – in Häusern, Gräben, in dicht bewachsenem Wald“, sagt David Thomas. Der Oberstleutnant führt die Inspektion der Infanterieschule, in der Einzelkämpfer und Nahkämpfer ausgebildet werden.

Training für Marineinfanteristen – beim Heer

„Damit diese Ausbildung wirklich bei allen in der Bundeswehr ankommt, muss sie einfach, leicht erlernbar, durch häufiges Wiederholen gut zu verfestigen und praktisch überall durchzuführen sein, zum Beispiel auch auf Schiffen“, sagt Thomas. Und zieht einen klaren Trennstrich zu Kampfsport oder zur zivilen Selbstverteidigung: „Im Nahkampf gibt es keine Silbermedaille. Den muss ich gewinnen, um zu überleben.“

Die Techniken bauen im Kern auf das israelische Krav Maga, „verbinden aber das Beste aus vielen Kampfsportarten“, ergänzt Mohr. Der bullige Oberstabsfeldwebel, Kampfsportler seit 42 Jahren, Kickboxer und ziviler Krav-Maga-Instruktor, zieht auch Trennlinien zum Nahkampf von Spezialeinheiten: „Wir lehren hier keine Techniken für Fixieren oder Abführen. Für so was ist im Gefecht keine Zeit.“ Außerdem sei es wesentlicher Bestandteil des neuen Nahkampf-Konzepts „immer so schnell als möglich wieder eine Waffe einzusetzen“.

Was in manchen Situationen gar nicht möglich ist. „In Schiffen ist für uns der waffenlose Nahkampf die erste Wahl, unseren Auftrag auch wirklich gegen Widerstände durchzusetzen“, sagt Oberbootsmann „Larry“. Der 27-Jährige, dessen Name wie bei allen Angehörigen von spezialisierten Kräften nicht veröffentlicht werden darf, gehört zum neu geschaffenen Seebataillon 1 der Marine – ein Verband, in dem sich Marineinfanteristen auch auf das Entern von Schiffen beispielsweise im Rahmen von Blockademissionen der UN spezialisieren. Zurück in seiner Einheit wird er auf einen der Ausrüstungssätze zurückgreifen, mit deren Hilfe jeweils 30 Soldaten die Abwehr von Messerstichen oder die Entwaffnung von Gegnern erlernen und üben sollen.

Ellbogen wie ein Hühnchen

Inspektionschef Thomas und der ihm vorgesetzte Lehrgruppen-Kommandeur Andreas Wiechert verweisen auf die etwa 300 Ausrüstungssätze, die es bereits flächendeckend in der Bundeswehr gibt. Die beiden Offiziere denken schon weiter. An die Integration von Nahkampf in die Grund-, die Schieß- und in die allgemeine Gefechtsausbildung, „denn da gehört sie letztlich hin“. Bei den kommenden Ausbildern kommt das gut an. Zwar muss sich der Prüfling noch vom Prüfer anhören: „Und nach dieser Bewegung muss die Hand sofort zurück. Der Kamerad da drüben“ – er deutet auf einen der Teilnehmer – „hat das zwar gemacht, hat aber den Ellbogen wie ein Hühnchen draußen. Gleich abstellen!“ Das Urteil der Teilnehmer klingt dennoch ziemlich einhellig: „Mit den Ausbildern hier macht das richtig Spaß, die motivieren wirklich.“

Dabei ist die Ausbildung kein Zuckerschlecken. Gut sieben Stunden täglich in der Halle. Immer wieder Aufwärmen. Ständig Aktion. „Du freust dich über jede halbe Stunde, in der du mal nicht auf die Fresse kriegst“, sagt „Larry“. Leutnant Frederik Lorenz pflichtet bei: „Robustheit zählt, Ausdauer allein reicht nicht.“ Die Basisfitness, die die Bundeswehr Soldaten abverlangt, auch nicht, bestätigt Hauptfeldwebel Marcel Andres. Kein Wunder, denn im militärischen Nahkampf gibt es auch keine Gewichtsklassen. „Bei mir denken viele schnell, der ist ja klein und süß, aber im Bodenkampf zeige ich, dass ich auch anders kann, selbst wenn 110 Kilo auf mir liegen.“

Pläne solange bis der erste Schlag ins Gesicht kommt

Warum das neue Nahkampf-Konzept so wenig mit früheren zu tun hat, erläutert Lehrgruppen-Kommandeur Wiechert: „Denken Sie an die Schwarz-Weiß-Bilder dazu in den alten Dienstvorschriften. Das hatte immer die Anmutung von Kampfsport in Uniform. Und viele haben mit dem Thema gefremdelt.“ Jetzt gehe es um strikte Orientierung an der Realität im Gefecht. „Heute trage ich eine Schutzweste, wenn ich in den Nahkampf gerate, der Gegner meist auch. Da muss ich ganz anders ran als früher.“

In der Halle steht derweil das Ergebnis der Prüfung: „Trotz der kleinen Unebenheiten: Ausbildung sauber geplant, sauber ausgeführt, Ihr Ausbildungsverhalten war insgesamt sehr präsent. Gut gemacht.“ Über dem Eingang zur Halle hängt ein Porträt des berüchtigten früheren Box-Weltmeisters Mike Tyson. Daneben steht sein Zitat: „Jeder hat einen Plan, bis er einen Schlag ins Gesicht bekommt.“ Fragezeichen stehen noch dahinter, wie weit die ehrgeizigen Pläne der Nahkampf-Spezialisten aus Hammelburg tragen werden. Anders gesagt: welchen Stellenwert die Bundeswehr dieser Ausbildung letztlich einräumen will.