Bundeswehr-Fahrzeuge bei ihrer Ankunft in Litauen Foto: AFP/PETRAS MALUKAS

Die Bundeswehr ist auf die neue Bedrohungslage nur unzureichend vorbereitet. Es fehlt an Truppen und Material. Einer der führenden Offiziere schlägt Alarm.

Stuttgart - Offiziere der Bundeswehr sind gewöhnlich sehr zurückhaltend, wenn sie öffentlich Auskunft geben sollen über Kampfbereitschaft und Ausstattung der deutschen Armee. Heeresinspekteur Alfons Mais ließ am Donnerstagmorgen alle Zurückhaltung fahren. Kurz nach Beginn der russischen Großoffensive in der Ukraine schrieb sich der Generalleutnant im Netzwerk Linkedin den Frust von der Seele.

„Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert“, schrieb der oberste Heeres-Soldat mit Blick auf die Nato. „Ich hätte in meinem 41. Dienstjahr im Frieden nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu müssen. Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“

Heeresinspekteur: „Ich bin angefressen!“

In aller Offenheit machte der Generalleutnant seinem Ärger darüber Luft, dass Mahnungen von ihm und anderen Militärs bei den politischen Führern in Berlin kein Gehör gefunden hätten: „Wir haben es alle kommen sehen und waren nicht in der Lage, mit unseren Argumenten durchzudringen, die Folgerungen aus der Krim-Annexion zu ziehen und umzusetzen“, schrieb Mais. „Das fühlt sich nicht gut an! Ich bin angefressen!“

Mais forderte eine Neuaufstellung der Bundeswehr mit ihren rund 180 000 Soldaten und Soldatinnen. „Sonst werden wir unseren verfassungsmäßigen Auftrag und unsere Bündnisverpflichtungen nicht mit Aussicht auf Erfolg umsetzen können“, schrieb er – und warnte: „Noch ist Nato-Territorium nicht direkt bedroht, auch wenn unsere Partner im Osten den konstant wachsenden Druck spüren.“

Vernachlässigung der Landesverteidigung

Die Bundeswehr hat nach dem Zerfall des Warschauer Paktes ihre traditionelle Kernaufgabe, die Landes- und Bündnisverteidigung, stark vernachlässigt. Die Aufmerksamkeit richtete sich immer mehr auf Einsätze fern der Bundesrepublik – in Afghanistan, in Afrika, in Nahost. Entsprechend wurde die Ausbildung und Ausstattung der Soldaten angepasst. Die Frage, wie einsatzfähig die Bundeswehr auf weit entfernten, internationalen Schauplätzen ist, war wichtiger als die Ausstattung mit Panzern oder Haubitzen zur Abschreckung von Aggressoren in Europa.

Die russische Annexion der Krim und das Desaster des Afghanistan-Einsatzes hatten einen Prozess des Umsteuerns angestoßen, aber der hat bisher wenig praktische Wirkung gehabt. Kurz vor dem Heeresinspekteur leistete im Grunde schon die neue Verteidigungsministerin einen Offenbarungseid.

Verteidigungsministerin an ihren „Grenzen der Möglichkeiten“

Da hatte die Bundeswehr gerade einige hundert Soldaten nach Litauen gebracht – als Teil der sogenannten Enhanced Forward Presence (EFP) der Nato. Mit dabei: Kräfte der Artillerie, der ABC-Abwehr, der Pioniere, der Feldjäger, der Logistik und des Sanitätswesens.

Diese Truppenverlegung sei schnell gegangen, weil die Kapazitäten dafür noch vorhanden seien, sagte Christine Lambrecht (SPD) am vergangenen Wochenende. Aber wenn es weitere Aufgaben bei der Absicherung der Nato-Ostgrenze geben sollte, stoße sie „als Verteidigungsministerin an meine Grenzen der Möglichkeiten“.

Das Engagement müsste entsprechend „finanziell unterlegt werden“, betonte Lambrecht mit Blick auf die anstehenden Haushaltsberatungen im Bund. Die Verteidigungsausgaben müssten erhöht werden, damit Deutschland innerhalb der Nato ein „verlässlicher Partner“ bleiben könne. Im vergangenen Jahr lag der Verteidigungshaushalt bei knapp 47 Milliarden Euro – und damit um 2,8 Prozent höher als 2020.

Kanzler Scholz verspricht größeres Engagement

Sie hoffe auf Rückendeckung von Kanzler Olaf Scholz bei den anstehenden Haushaltsverhandlungen, betonte Lambrecht. Scholz selbst habe am Samstag auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Bereitschaft zu einem größeren Engagement betont. „Ich habe dem Kanzler genau zugehört“, erklärte die Ministerin – und fügte doch gleich selbst eine Einschränkung hinzu: Dies durchzusetzen, sei sicher schwierig, weil es auch andere Herausforderungen wie die Corona-Pandemie oder den Kampf gegen den Klimawandel gebe.

Die Frage, welche Herausforderung die drängendste ist, muss allerdings jetzt, nach Beginn des russisch-ukrainischen Krieges, neu beantwortet werden.