Ein palästinensisches Kind spielt vor der israelischen Grenzmauer in Ostjerusalem. Weitere interessante Neuerscheinungen finden Sie in unserer Bildergalerie. Foto: picture alliance/dpa

Ein Meisterwerk: In Israel spitzt sich die Lage zu, doch der irische Autor Colum McCann hat einen Roman über den Nahost-Konflikt geschrieben, der der Versöhnung über alle Mauern hinweg den Weg weist. Gerade ist „Apeirogon“ für den Booker-Preis nominiert worden.

Stuttgart - Der Nahost-Konflikt ist vielleicht das verminteste Terrain, auf dem man sich bewegen kann. Und mit den jüngsten politischen Entwicklungen, einer drohenden israelische Annexion des Westjordanlands, der Furcht vor einer neuen Intifada, dürfte die Hoffnung auf eine Entschärfung unhaltbarer Verhältnisse auf unabsehbare Zeit zerstieben sein. Wieder einmal.

Schon allein die Frage, von welchen unhaltbaren Verhältnissen überhaupt die Rede sei, wird sofort eine Linie der Vereinseitigung ziehen, hinter der sich die jeweiligen Lager verschanzen, um ihren Ansprüchen Ausdruck zu verleihen: etwa dem Recht auf Sicherheit auf der einen, dem Recht auf ein Leben ohne die Schikanen der Besatzung auf der anderen Seite. Die Verteidigung von jenem kostet die zehnjährige Palästinenserin Abir das Leben, die beim Süßigkeitenkaufen vom Gummigeschoss eines israelischen Grenzsoldaten tödlich getroffen wurde. Auf der anderen Seite reißt das Selbstmordattentat dreier junger Palästinenser die dreizehnjährige Smadar in den Tod.

Zwei Leben stellvertretend für die unzähligen, die diesseits und jenseits der Demarkationslinie der Vereinseitigung vereitelt werden. Und dazwischen wächst eine Mauer ins Unermessliche.

Zusammenhang statt Trennung

Doch die Dinge sind komplizierter. Und wer sie verstehen will, muss bereit sein, mehr als nur die zwei Seiten einer Mauer ins Auge zu fassen. Die Geometrie kennt die Figur des Apeirogon, eine Figur mit einer unendlichen Menge Seiten. In ihrem Zeichen bringt der irische Autor Colum McCann in seinem neuen gewaltigen Roman zur Anschauung, was sich dem handlichen Gebrauch im alltäglichen Meinungskampf entzieht. Ihm zugrunde liegt die reale Geschichte der Väter jener beiden getöteten Mädchen.

Der Palästinenser Bassam Aramin saß als Jugendlicher wegen mehrerer Handgranatenanschläge sieben Jahre im Gefängnis und wandelte sich dort vom Fatah-Aktivisten zum Friedenssoldaten. Schon Jahre vor dem tragischen Tod seiner Tochter wurde er Mitglied der Combatants of Peace, einer israelisch-palästinensischen Gruppierung, die von der Überzeugung getragen wird, dass sich mit Gewalt nichts erreichen lässt, wohl aber mit dem Versuch, das jeweiliges Gegenüber zu verstehen. Auch der Israeli Rami Elhanan ist nach dem Anschlag, bei dem seine Tochter vor einem Jerusalemer Buchladen getötet wurde, zu der Gruppierung gestoßen. Nun braust er mit seinem Motorrad durch das von Checkpoints, Sperrmauern und Zonen durchklüftete Land, unterwegs zu einem Treffen, bei dem er und Bassam ihre Geschichte erzählen werden, gemäß der Maxime an einem Aufkleber seines Motorrads: „Es wird erst vorbei sein, wenn wir reden.“

Der äußere Umriss des Romans besteht aus der Hin- und Rückfahrt der beiden in ihrem Schmerz zu Brüdern gewordenen Vätern zu dem Vortragsort, einem von Teilung bedrohten Kloster im judäischen Bergland. Eine Fahrt, die für den Palästinenser ungleich schwieriger zu bewältigen ist als für seinen israelischen Freund. Genau in der Mitte des Romans treffen sie aufeinander, ihre Erzählungen bilden das Zentrum eines Assoziationsraumes, der von Aphorismen, Notizen, Lebensfragmenten und Erinnerungen ausgefüllt wird, 499 hin, 499 zurück. Zusammen mit den beiden Vorträgen und einem vermittelnden Stück ergibt sich die Zahl von 1001 und damit die Referenz zu dem Grundbuch jeglichen Anerzählens gegen den Tod: den „Geschichten aus tausendundeiner Nacht“.

Die Rekonstruktion des privaten Schicksals, das das Leben der beiden Väter in Trümmer gelegt hat, integriert assoziativ Elemente und Bruchstücke eines umfassenderen Zusammenhangs. Holocaust, Nakba, die traumatische Vertreibung der Palästinenser, Miniaturen aus biblischer Vorgeschichte und der brutalen Gegenwart im gelobten Land verknüpfen sich in der wundersamen Konstruktion des Romans zu einer Meditation über Trauer, Tod, Gewalt und was sich dagegen setzen ließe. Mit der Steinschleuder fing an, was mit dem Plutoniumkern der Nagasaki-Bombe nicht endet. Er hatte die Größe eines wurftauglichen Steins. Alles hängt mit allem zusammen: eine ornithologische Militärgeschichte von der Falkenzucht bis zu intelligenten Drohnenschwärmen mit dem Schlemmermahl des greisen französischen Präsidenten Mitterrand, der sich kurz vor seinem Tod seltene, winzige Singvögel servieren ließ. Unter einer Serviette verborgen kaute er mehrere Minuten. Seine Familie hört die Knochen knacken. Das Geräusch klingt wider in der von einem Gummigeschoss zertrümmerten Schädeldecke der kleinen Abir.

Kunstvolle motivische Arbeit

Dem Ingenium, immer entsetzlichere Waffensysteme zu erfinden, steht ein Meisterwerk islamischer Handwerkskunst gegenüber: der Minbar Saladins, der achthundert Jahre lang in der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem stand, bis er von einem religiösen Eiferer in Schutt und Asche gelegt wurde. Sechzehntausend feingeschnitzte Holzteile, ein Wunderwerk der Geometrie, allein zusammengehalten durch die harmonische Anordnung der Einzelteile.

Die kunstvolle motivische Arbeit von Colum McCanns „Apeirogon“ spielt den Roman ins Feld benachbarter Künste, der Musik, der Architektur. Grenzüberschreitung ist nicht nur seine Botschaft, sondern sein Prinzip. Er beschwört die Schönheit und humanisierende Kraft des Zusammenhangs gegen die Polarisierungen und Vereinseitigungen, die Psychosen des Hasses und der Vernichtung, von denen nicht nur das Leben in Israel bedroht wird.