Boris Johnson und Ursula von der Leyen müssen eine Lösung finden. Nur wie? Foto: dpa/Oliver Hoslet

Die Zeit wird immer knapper. Gelingt am Wochenende doch noch ein Freihandelsabkommen mit Großbritannien? Boris Johnson muss jetzt den entscheidenden Schritt von der Klippe weg machen.

London - Für die kompromisslosesten Brexiteers ist keineswegs gesagt, dass sich London und Brüssel noch auf einen Freihandelsvertrag einigen werden. Klare „Signale, dass das Vereinigte Königreich nicht bereit ist, klein beizugeben“, machte jetzt der nationalkonservative Daily Telegraph aus. Nicht zuletzt, freute sich das Blatt, habe Regierungschef Boris Johnson diese Woche „die Abgeordneten heimgeschickt in die Weihnachtsferien“, statt das Parlament noch für ein paar Tage am Laufen zu halten.

Andere Stimmen weisen freilich darauf hin, dass die Parlamentarier binnen 48 Stunden zurück nach Westminster gerufen werden können. Ein Regierungssprecher räumte sogar ein, dass das „schon nächste Woche“ der Fall sein kann. Bezeichnend an dieser Situation ist, dass Johnson auch das eigene Land rätseln lässt bis zum Ende. Nur keine Bereitschaft zum Einlenken zeigen, war ja immer sein oberstes Gebot.

Johnson beschwört eine strahlende Zukunft

Während EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen zum Wochenende trotz aller Meinungsverschiedenheiten „erhebliche Fortschritte“ bei den Verhandlungen meldete, betonte der Brite lieber, die Lage sei ernst und ein Scheitern der Gespräche noch immer sehr wahrscheinlich. Was aber nicht weiter schlimm sei: Denn auch ein No Deal würde den Briten „wunderbare Zeiten“ bescheren.

„Mächtig gedeihen“ würde sein Land, auf sich allein gestellt. Dass Johnson selbst das glaubt, ist nicht sehr wahrscheinlich. Allzu viele Experten, auch hohe Regierungsbeamte und die Bank von England, haben zunehmend dringlich vor einem „Sprung über die Klippe“ gewarnt. Grenzprobleme, Versorgungsengpässe, Abwanderung von Investoren, Firmen-Zusammenbrüche und enorme Verluste an Wirtschaftskraft sind dem Regierungschef oft prophezeit worden.

Die Wirtschaft mahnt vor dramatischen Folgen

Ganz zu schweigen von den politischen Folgen – vom Verlust an Einfluss und Verbündeten statt dem Zugewinn an Bedeutung in der Welt. In der Tat hat Johnson selbst seinen Wählern ja immer versichert, dass es zu einem No Deal nie kommen werde. Noch vor ein paar Jahren fand er, die Chancen für ein No-Deal-Ergebnis beim Brexit stünden „eins zu einer Million“. Kein Wunder: Stets hatten die Brexiteers ihren Landsleuten versichert, Deutschlands Auto-Produzenten und Frankreichs Winzer würden schon für weiteren reibungslosen Warenverkehr sorgen, über und unterm Ärmelkanal. In ihrem Eifer übergingen sie allerdings Fragen zum wahren Kräfteverhältnis zwischen beiden Seiten und zum vorrangigen Interesse der anderen EU-Staaten an der Aufrechterhaltung ihres gemeinsamen Markts.

Statt nüchtern abzuwägen, wie viel Zugewinn an Souveränität wie viel Verlust an Wohlstand unterm Strich rechtfertige, setzte man in London auf eine von Anfang an unrealistische Rhetorik nationaler Überlegenheit und zunehmend scharfer anti-europäischer Ressentiments. Johnson selbst, der sein Land gern aufforderte, sich von seinen „Ketten“ zu befreien, trug nach Kräften zu dieser Denkweise bei.

Kann sich Johnson von seiner Rhetorik lösen?

Für ihn durfte Großbritannien kein „Vasallenstaat der EU“ bleiben. Zuletzt, mitten in der Schlussphase der Verhandlungen, warnte er seine Landsleute, Brüssel wolle sie bestrafen, wenn sie sich den EU-Vorstellungen von fairem Wettbewerb nicht fügten. Gehorchen sollten sie nun schon wieder. Und das gehe natürlich nicht an. In einer bewusst provokativen Geste wurden gar noch vier Kriegsschiffe mobilisiert, um Wehrbereitschaft bei einer für den No-Deal-Fall erwarteten Invasion von Fischerbooten aus der EU zu demonstrieren – und dies zur selben Zeit, da Johnson offenbar, wie die EU, bereits einer Lösung näher rückte am Verhandlungstisch.

Wie sich Boris Johnson aus dem Gespinst seiner eigenen martialischen Worte und Aktionen befreien und den Briten nun erklären will, warum auch ein glorios überhöhtes „Brexitannen“ noch Verpflichtungen gegenüber der EU wird eingehen müssen: Das ist die große Frage, die sich ihm jetzt, kurz vor Ablauf der Verhandlungsfrist, stellt. Wird er es tun? Nur wenige Insider auf der Insel glauben, dass Johnson blind ist für die Folgen eines No-Deal-Brexit. Aber ob er letztlich seiner Einsicht folgt und riskiert, dass ihn seine Hardliner beschuldigen, den Brexit verraten zu haben, steht auf einem anderen Blatt. Die auf britischer Seite ein Fiasko fürchten, können nun nur hoffen, dass es ihm auch nicht an Mut fehlt, von der Klippe zurück zu treten. Auf diesen letzten Schritt kommt jetzt alles an.