Recep Tayyip Erdogan feiert das Ergebnis als Erfolg. Foto: dpa/Burhan Ozbilici

Beide Seiten können behaupten, ihren Standpunkt durchgesetzt zu haben. Acht der zehn von Präsident Recep Tayyip Erdogan mit Rauswurf bedrohten westlichen Botschafter betonten, sie mischten sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Türkei ein.

Ankara - Die Botschafter-Krise zwischen der Türkei und dem Westen ist beigelegt – und beide Seiten können behaupten, ihren Standpunkt durchgesetzt zu haben. Acht der zehn von Präsident Recep Tayyip Erdogan mit Rauswurf bedrohten westlichen Botschafter betonten am Montag in gleichlautenden Mitteilungen, sie mischten sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Türkei ein. Deutschland und Frankreich äußerten sich nicht. Erdogan begrüßte die Klarstellung, wie die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete.

Eine diplomatische Lösung über das Wiener Abkommen

Demnach verzichtet die Türkei darauf, die Diplomaten zu unerwünschten Personen zu erklären, obwohl die Botschafter ihre von Erdogan kritisierte Forderung nach Freilassung des Bürgerrechtlers Osman Kavala nicht zurückgenommen haben. Erdogan-Anhänger feierten das Ergebnis als Triumph der Türkei über den Westen. Nach Ansicht mancher Beobachter könnte Kavala aber im Rahmen des Kompromisses bald freigelassen werden.

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Erdogan hatte das türkische Außenministerium angewiesen, die Botschafter von Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Kanada, Neuseeland, den Niederlanden, Norwegen, Schweden und den USA zu unerwünschten Personen zu erklären. Wenn das Ministerium der Anweisung gefolgt wäre, hätten die Diplomaten laut den internationalen Gepflogenheiten das Land verlassen müssen – das wäre die schwerste Krise zwischen der Türkei und dem Westen seit einem halben Jahrhundert gewesen.

Die Botschafter hatten den Zorn des Präsidenten auf sich gezogen, indem sie Kavalas Freilassung forderten. Erdogan warf den zehn Ländern vor, der türkischen Justiz Vorschriften machen zu wollen. Er betrachtet Kavala als Staatsfeind und weist den Ruf des Europäischen Menschenrechtsgerichts nach Freilassung des Bürgerrechtlers zurück. Im Europarat droht der Türkei deshalb der Rauswurf.

Das türkische Außenamt bemühte sich hinter den Kulissen um eine Entschärfung der Krise. Als Ergebnis der Gespräche erklärten acht der betroffenen westlichen Botschaften am Montag per Twitter, sie hielten sich weiter an Artikel 41 des Wiener Übereinkommens über Diplomatische Beziehungen von 1961. Nach dem Artikel müssen sich ausländische Diplomaten an die Gesetze ihres Gastlandes halten. „Sie sind ferner verpflichtet, sich nicht in dessen innere Angelegenheiten einzumischen.“ Deutschland und Frankreich äußerten sich nicht.

Der Westen kann seine Haltung bestätigt sehen

Nach dem Kompromiss kann der Westen seine Haltung bestätigt sehen, dass die Forderung nach Umsetzung internationaler Gerichtsurteile wie im Fall Kavala keine Einmischung in innere Angelegenheiten darstellt. Mit ihrer Erklärung, die lediglich aus einem einzigen Satz bestand, nehmen die betroffenen Länder ihre Forderung nach Kavalas Haftentlassung nicht zurück. Mehrere Regierungen hatten am Wochenende erklärt, sie blieben bei ihrer Position. Erdogan-Berater Ilnur Cevik hatte verlangt, der Appell zugunsten von Kavala müsse zurückgenommen werden.

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Gleichzeitig kann die türkische Regierung jedoch vor den eigenen Wählern von einem Erfolg über den Westen zu sprechen, weil die westlichen Botschafter sich zur Einhaltung des Wiener Übereinkommens bekannt haben. Ein einziger Satz von Erdogan habe gereicht, um zehn Länder in die Knie zu zwingen, kommentierte der regierungsnahe Journalist Ibrahim Karagül. Die regierungstreue Zeitung „Sabah“ jubelte in ihrer Online-Ausgabe, ein westlicher Staat nach dem anderen mache einen „Rückzieher“.

Nach Informationen des Türkei-Experten Soner Cagaptay von der US-Denkfabrik Washington Institute wird Erdogan die betroffenen Botschafter ab sofort nicht mehr in seinem Palast in Ankara empfangen. Der Menschenrechtsanwalt Orhan Kemal Cengiz schrieb auf Twitter, er wäre nicht überrascht, wenn Kavala nach dem Kompromiss bald freigelassen werde. Der Prozess gegen den Bürgerrechtler wird am 26. November fortgesetzt. Wenige Tage später entscheidet der Europarat über den Beginn eines Ausschlussverfahrens gegen Ankara.

Opposition wirft Erdogan Taktieren vor

Allerdings sind die Probleme für die türkische Regierung nicht ausgestanden. Sie kann nicht erwarten, dass Länder wie die USA nach den Drohungen gegen ihre Botschafter einfach zur Tagesordnung übergehen werden. Alle betroffene Länder, darunter die wichtigsten Handelspartner der Türkei, würden ihre Kontakte mit Ankara auf ein Minimum reduzieren, sagte Türkei-Experte Cagaptay voraus. Zudem sei es wahrscheinlich, dass US-Präsident Joe Biden sein geplantes Treffen mit Erdogan am Rande des G-20-Gipfels in Rom am Wochenende absagen werde.

Die türkische Opposition wirft Erdogan vor, die Botschafter-Krise benutzen zu wollen, um dem Ausland die Schuld an den schweren wirtschaftlichen Problemen der Türkei geben zu können. Die Lira hat in jüngster Zeit dramatisch an Wert verloren und setzte die Talfahrt auch am Montag fort. Seit Jahresbeginn ist der Kurs der türkischen Währung gegenüber dem Euro um fast 20 Prozent und gegenüber dem Dollar um fast 24 Prozent abgesackt.