Im kurzen Takt und manchmal sogar gleichzeitig: Das Stuttgarter Landgericht arbeitet die Schießereien unter rivalisierenden Gruppierungen in der Region auf. Je nach Prozess wechseln Beschuldigte ihre Rollen. Sicherheit wird großgeschrieben.
Ein 34-jähriger Angeklagter sitzt mit kugelsicherer Weste auf der Anklagebank. Er soll sich 2022 in Esslingen ein Feuergefecht mit gegnerischen Angreifern geliefert haben. Gleichzeitig wird ein paar Säle weiter gegen drei 21 und 22 Jahre alte Männer verhandelt, die 2023 den Zwillingsbruder dieses 34-Jährigen in Zuffenhausen niedergeschossen haben sollen. Und dann ist da noch der Prozess um einen 24-Jährigen, der 2022 wiederum auf einen dieser drei Angeklagten der Esslinger Gruppierung gefeuert haben soll. Die Aufarbeitung der bewaffneten Fehde zweier schießwütiger Gruppierungen im Stuttgarter Landgericht schafft erstaunliche Querverbindungen.
Wie war das noch mal mit den subkulturellen Gruppierungen, die sich seit gut drei Jahren in der Region mit Schusswaffen und Handgranaten bekriegen? Die 14. Strafkammer unter der Vorsitzenden Richterin Verena Alexander nimmt Nachhilfeunterricht bei einer 47-jährigen Kriminalhauptkommissarin. Ihr Fachgebiet: Operative Auswertung in der Organisierten Kriminalität. Die Zeugin skizziert, wie aus einem Kern der verbotenen kurdischen Gang Red Legion über die Jahre zwei neue verfeindete multiethnische Gruppen in der Region entstanden sind, mit einer neuen Generation gewaltbereiter junger Männer. „Der kurdische Gedanke ist dabei noch heute vorhanden“, sagt sie. Über den Anlass der Aufspaltung könne man nur spekulieren.
Polizei kommt möglichem Gegenschlag zuvor
Zuffenhausen/Fasanenhof/Göppingen/Schorndorf – so wird die eine Gruppierung verortet. Die andere: Esslingen/Plochingen/Ludwigsburg/Stuttgart-Vaihingen. Die Schüsse am 17. März 2023 vor einer Bar an der Burgunderstraße in Zuffenhausen, mit denen sich die 14. Kammer seit Monaten beschäftigt, galten einem mutmaßlichen Führungsmitglied der Zuffenhausen-Gruppe. Der damals 32-Jährige wurde lebensgefährlich verletzt und sitzt seither im Rollstuhl. Zwei heute 21 und 22 Jahre alte Männer aus der Esslinger Gruppe sollen auf ihn gefeuert, ein weiterer 21-Jähriger später eine der Tatwaffen entsorgt haben.
Am Tag nach diesem Anschlag hatte die Polizei eine Razzia am Josef-Hirn-Platz in der Stuttgarter Innenstadt gestartet. „Wir wollten damit der Gegengruppierung zuvorkommen“, sagt die Hauptkommissarin als Zeugin vor Gericht. Der Josef-Hirn-Platz gilt als Treffpunkt der Esslingen/Ludwigsburg-Gruppe. Und die hatte sich gerüstet: „Bei den Kontrollen wurde eine polnische Maschinenpistole aus Kriegsbeständen sichergestellt“, sagt die 47-jährige Kriminalistin. Unter den kontrollierten Personen: ein heute 22-Jähriger aus Plochingen, der sich vor der 14. Strafkammer verantworten muss.
Eine Straftat ohne genaue Tatzeit
Mit ihm auf der Anklagebank sitzen zwei 21-Jährige aus Ludwigsburg, die beide bereits zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Sie gehörten zu den Trauergästen, die nach dem Handgranatenanschlag am 9. Juni 2023 auf dem Friedhof Altbach den Attentäter fast zu Tode geprügelt hatten. Einer der beiden soll noch in einem anderen Fall eine Rolle spielen – diesmal als Zielscheibe. Die Hauptkommissarin verweist auf den aktuellen Prozess gegen einen 24-Jährigen aus der Zuffenhausen-Gruppe, der vor der 19. Strafkammer verhandelt wird. Dabei geht es um die ersten Schüsse im Sommer 2022.
Szenenwechsel, Saalwechsel: Die 19. Strafkammer unter dem Vorsitzenden Richter Norbert Winkelmann beschäftigt sich mit einer Tat Ende Juli 2022 ebenfalls in Zuffenhausen. Ohne genaue Tatzeit. Vor dem Stammlokal der Zuffenhausen-Gruppe in der Burgunderstraße soll damals ein Auto mit Ludwigsburger Kennzeichen aufgetaucht sein. An Bord zwei junge Männer – einer davon eben jener bei der 14. Kammer angeklagte Ludwigsburger. Er und ein Kumpel wurden als Feinde identifiziert, ihr Auto wurde verfolgt und gestellt.
Und einmal löste die Waffe nicht aus
Dann fielen Schüsse. Es sind mit die ersten in der Dauerfehde, die insgesamt mehr als 500 Beteiligte haben soll. Ein zur Tatzeit 21-Jähriger aus der Zuffenhausen-Gruppe, wegen Drogendelikten polizeibekannt, soll dabei auf den Ludwigsburger gezielt und abgedrückt haben. Der kam offenbar nur deshalb davon, weil die Waffe Ladehemmung hatte. Der Angreifer der Zuffenhausen-Gang soll letztlich zwei Schüsse abgefeuert haben, die das gegnerische Fahrzeug aus Ludwigsburg trafen.
Dass der Vorfall der Polizei überhaupt bekannt wurde, lag an Abhörmaßnahmen. Der Tatverdacht gegen den heute 24-Jährigen ergab sich laut Staatsanwaltschaft im Frühjahr 2024. Die Beamten hatten im Rahmen von Ermittlungen ein Fahrzeug verwanzt – und bei der Pkw-Innenraumüberwachung hatten Verdächtige über das Geschehen geplaudert.
Die Termine sind bis Juli festgelegt
Ein Indizienprozess, bei dem Richter Winkelmann nicht mit einem schnellem Abschluss rechnet. Seine 19. Kammer hat vorsorglich Termine bis in den Juli hinein festgelegt. Bis Juli plant auch Richterkollegin Alexander von der 14. Kammer im Fall der Schüsse auf den mutmaßlichen Bandenchef in Zuffenhausen.
Etwas schneller dürfte womöglich der Fall um den Zwillingsbruder abgehandelt werden, der sich für ein Feuergefecht im September 2022 in Esslingen-Mettingen verantworten muss. Der 34-Jährige war dafür schon zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt worden, hatte aber beim Bundesgerichtshof wegen eines Verfahrensfehlers Recht bekommen. Die 19. Kammer muss alles wieder von vorne aufrollen und hat Termine bis April festgelegt. Für den Mann ist das alles offenbar nicht ungefährlich. Deshalb mit Schutzweste. Sicher ist sicher.