Eine besondere Nachbarschaft: Beim Singen in der Lämmleshalde wird genau darauf geachtet, dass der Mindestabstand eingehalten wird – mit Ausnahme von Familien. . Foto: Andrea Eisenmann

Seit dem 22. März treffen sich abends in der Lämmleshalde täglich zahlreiche Anwohner, um in Zeiten der Corona-Pandemie gemeinsam zu singen und zu musizieren – natürlich unter strikter Einhaltung des vorgeschriebenen Abstands. Die Nachbarschaft ist dadurch weiter zusammengewachsen – trotz aller räumlichen Distanz.

Bad Cannstatt - Lämmleshalde, kurz vor 19.30 Uhr. In die menschenleere Straße kommt Bewegung. Ulrike Perschmann stellt einen Stuhl in die Einfahrt des Hauses, ihr Mann Ulrich Perschmann folgt ihr mit dem Cello in der Hand. Wenige Augenblicke später tritt noch Tochter Rita mit dem Englischhorn und einem Notenständer zur Tür hinaus. Fenster werden geöffnet, Nachbarn winken sich zu, immer mehr Anwohner treten vor ihr Haus. Auch aus den angrenzenden Straßen kommen vereinzelt Personen und stellen sich im Abstand zueinander auf dem Gehweg auf. Im „Gepäck“ haben sie mehrere Liedzettel. Kurz wird beraten, welche Stücke an diesem Abend angestimmt werden, und dies durch Zuruf weitergegeben. „Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligthum“, ist kurz darauf zu hören.

Für viele der Anwohner ist das abendliche Musizieren und Singen in Zeiten der Corona-Pandemie längst zu einem festen Termin in ihrem Tagesablauf geworden. Dessen Vorbilder? In Italien gibt es seit der Corona-Krise die Balkon-Konzerte, die Kirchen in Deutschland rufen dazu auf, sich abends Mut zu zu singen und am 22. März wurde ein bundesweiter Flashmob mit „Ode an die Freude“ initiiert. An diesem Tag wird auch in der Lämmleshalde zum ersten Mal musiziert. Auch hier erklingt die von Ludwig van Beethoven komponierte Europa-Hymne.

Mit Flyern habe man Nachbarn auf die Aktion aufmerksam gemacht, sechs Familien hätten sich damals zu dem kleinen Abendkonzert zusammengefunden, erinnern sich Ulrich und Ulrike Perschmann. Von da an wurden es immer mehr. Von Jung bis Alt, ein breites Altersspektrum ist vertreten. Das Besondere in Bad Cannstatt: Es wird nicht nur miteinander gesungen, sondern die Lieder werden von Instrumenten begleitet – und das manchmal in einem Abstand von mehreren Häusern, was das zeitgleiche Musizieren und Singen nicht gerade einfacher macht. Es sind seit dem 22. März nur wenige Tage vergangen, an denen die Nachbarschaftsaktion nicht stattgefunden hat. Selbst, als es an einem Abend in Strömen regnete, versammelten sich die Anwohner. Dieses Mal ausgestattet mit Regenschirmen.

Der Lieder-Vorrat wächst stetig. Mehr als zehn Stücke umfasst das Repertoire. Häufig gesungen werden Lieder wie „Tragt in die Welt nun ein Licht“ oder „Der Mond ist aufgegangen“. „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ wurde sogar um eine eigens getextete Strophe für die Lämmleshalde erweitert. Als sich ein Nachbarskind „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ wünscht, wird auch diese Bitte erfüllt. Trotz des räumlichen Abstands ist die Nachbarschaft in den vergangenen Wochen zusammengewachsen.

Gegen 19.50 Uhr ist alles vorbei. Es gibt Applaus, man verabredet sich für den nächsten Abend und wünscht sich Gesundheit sowie eine gute Nacht. „Das Wetter soll ja bestens werden“, ruft ein Teilnehmer. Dann schließen sich die Fenster, die Anwohner kehren in ihre Häuser zurück. Es ist wieder still in der Lämmleshalde. Nur Vogelgezwitscher und Motorenlärm aus einer Nebenstraße sind zu hören.