Beamte der Stuttgarter Einsatzhundertschaft durchkämmten am 28. Juli 1987 die Felder zwischen Schmiden und Bad Cannstatt nach Spuren. Fotos: Archiv Quelle: Unbekannt

Von Uli Nagel

Er gilt als einer der erschütterndsten Fälle in der Stuttgarter Kriminalgeschichte: der Tod von Anja Aichele. Die 17-jährige Schülerin wurde vor 30 Jahren am 27. März 1987 ermordet. Alle Ermittlungen - auch über „Aktenzeichen XY“ - verliefen damals im Sande. 2008 keimte wieder Hoffnung bei der Kriminalpolizei auf, als eine DNA-Spur des mutmaßlichen Täters entdeckt wurde. Doch der größte Massen-Gentest in der baden-württembergischen Polizeihistorie 2012 blieb erfolglos.

Die Cannstatter Weinbauern haben eine Tradition: Sie treffen sich jedes Jahr im September an der Oberen Ziegelei zu ihrem Herbstrundgang durch die Weinberge. Man will schließlich wissen, wie es um die Öchslegrade der Trauben bestellt ist und wann die Lese begonnen werden muss. Doch dieser Ort hat auch eine furchtbare Geschichte, die sich nur wenige Meter entfernt vor 30 Jahren ereignet hatte. Denn hier hatte die Polizei die 17 Jahre alte Anja Aichele drei Tage nach ihrem Verschwinden am 27. März 1987 tot aufgefunden.

Die Schülerin des Elly-Heuss-Knapp-Gymnasiums wurde auf dem Nachhauseweg - sie kam von einem Jugendtreff der Cannstatter Luthergemeinde - ermordet und Ecke Steinhalden-/Schmidener Straße in einem Gartengrundstück verscharrt; ganz in der Nähe zu ihrer elterlichen Wohnung. Der Täter hatte alle Spuren sorgsam verwischt, doch die Polizei fand im Rahmen von groß angelegten Suchaktionen Kleider von Anja Aichele; unter anderem auf dem Schmidener Feld.

Während der Fahndungsapparat der Polizei ins Rollen kam, war die Anteilnahme der Stuttgarter am grauenhaften Schicksal der Schülerin riesig. Nach einer Andacht am 3. April in der Lutherkirche zogen damals rund 1200 Menschen in einem Schweigemarsch die Schmidener Straße hinauf zur Haltestelle und legten dort, wo Anja gefunden wurde, Blumen nieder. Ein Ort, an dem auch jahrelang ein Holzkreuz mit dem Namen „Anja“ stand, eh das stumme Symbol für einen bis heute ungesühnten Mord dem Bau der Stadtbahn weichen musste.

Bis zu 60 Ermittler sammelten damals mehr als 4000 Hinweise. Viel Arbeit, weshalb die Soko teilweise auf bis zu 250 Mitarbeiter aufgestockt wurde. Allein in den ersten Wochen nach der Tat wurden rund 530 junge Männer aus Anja Aicheles Umgebung nach ihren Alibis befragt. Zeugenaufrufe im damaligen Neckarstadion sollten den Ermittlern ebenso helfen, wie Fernsehfahndungen über „Aktenzeichen XY“ im Januar 1988.

Ein halbes Jahr zuvor war in der Nähe von Schmiden der Lederfetzen eines Schuhs von Anja Aichele entdeckt worden. Er muss, laut der damaligen Polizeiexperten, erst wenig Tage zuvor dort wohl vom Täter weggeworfen worden sein. Doch in der Folge blieben alle Bemühungen, den Mörder zu überführen, ohne Erfolg. Die Ermittlungsakten rund um das Schicksal der 17-jährigen Schülerin wanderten in den Keller der Mordkommission. Doch vergessen wurden sie nie, denn in Deutschland verjährt Mord nicht.

Knapp 20 Jahre später keimte wieder Hoffnung auf. Dank moderner Technik in den Kriminallabors bei der Täterüberführung hatte sich offenbar eine brauchbare Spur auf den Mörder Anja Aicheles ergeben. Denn auf einem Asservat wurde der Code eines so genannten genetischen Fingerabdrucks gefunden. Entdeckt wurde die DNA-Spur allerdings nicht durch „Kommissar Zufall“, sondern bei einer routinemäßigen Überprüfung der Gegenstände, die im Zuge der Ermittlungen im Mordfall Anja Aichele sichergestellt worden waren und seitdem in der Asservatenkammer lagerten. Das war Ende 2008.

In der Folge wurden alle Beteiligten, darunter auch sämtliche mit dem Fall betrauten Polizeibeamten, durch einen DNA-Abgleich ausgeschlossen. Zudem wurden sämtliche Personen aus dem damaligen Freundes- und Bekanntenkreis des Mordopfers aufgefordert, freiwillig eine Speichelprobe beim LKA abzugeben. Unterm Strich ergab dies eine ellenlange Liste, denn mehr als 500 Menschen sind nach dem Mord an Anja Aichele damals auf ihre Alibis hin überprüft und dadurch aktenkundig geworden. Allerdings stand für die Ermittler bereits fest, dass der mutmaßliche Täter nicht in der DNA-Datenbank des Bundeskriminalamtes auftaucht und folglich auch noch nicht wegen einer schweren Straftat registriert wurde. Und dort lagern immerhin mehr als 700 000 Datensätze von Straftätern.

Am Samstag, 21. April 2012, bot sich den Anwohnern der Ferdinand-Hanauer-Straße 10 im Muckensturm dann ein nicht alltägliches Bild. Bereits am frühen Vormittag spazierten jede Menge Männer in Richtung Kindertagesstätte. Der Grund: Die Kriminalpolizei bat zum Speicheltest im Mordfall Anja Aichele. Bis heute der größte Massengentest in der Geschichte der Polizei Baden-Württembergs.

Steffen Gottmann, stellvertretender Leiter des Dezernats für Tötungsdelikte, war damals im Einsatz und kann sich noch gut erinnern: „Die Unterstützung war groß“. Binnen 90 Minuten hatten bereits mehr als 100 Männer die DNA-Prozedur, wie man sie aus dem Fernsehen gut kennt, hinter sich gebracht. „Aufgrund eines Antrages der Staatsanwaltschaft hat das Amtsgericht Stuttgart damals einen Beschluss erlassen, wonach alle zwischen dem 1. Januar 1927 und 31. Dezember 1972 geborenen Männer, die zur Tatzeit im näheren Tatortbereich gewohnt haben, aufgefordert wurden, eine Speichelprobe abzugeben - auf freiwilliger Basis“, so Gottmann. Das waren insgesamt fast 800 Personen. So erfreulich groß die Bereitschaft der Männer - darunter auch der ehemalige und mittlerweile verstorbene DFB-Boss Gerhard Mayer-Vorfelder - auch war, der Abgleich sämtlicher Speichelproben mit der aufgefundenen (mutmaßlichen) DNA von Anjas Mörder blieb ohne Übereinstimmung. „Wir haben letztes Jahr unseren Abschlussbericht an die Staatsanwaltschaft geschickt“, so der stellvertretende Dezernatsleiter. Das Verfahren wurde daraufhin eingestellt.

Doch wie gesagt, Mord in Deutschland verjährt nie. Falls es triftige Gründe für die Kripo gibt, ihre Ermittlungen wieder aufzunehmen, dann wird auch Steffen Gottmann sich wieder in den Keller begeben und die Akte Anja Aichele erneut öffnen. Denn der Mord an Anja Aichele ist ein Fall, der bis heute ungeklärt, ungesühnt und unvergessen ist.