Nach 345 Minuten kann Andy Murray jubeln: Er gewinnt gegen den Lokalmatador Thanasi Kokkinakis. Foto: Imago//uo Lei

Andy Murray gewinnt nach fast sechs Stunden gegen Thanasi Kokkinakis. Dass er solche Strapazen trotz künstlicher Hüfte schafft, zeugt von einem unglaublichen Ehrgeiz. Die späten Spielzeiten kritisiert er jedoch als „Farce“ – und nicht nur er.

Draußen fuhren die allerersten Berufspendler schon nach Melbourne hinein, als Andy Murray in der Herrgottsfrühe dieses Freitags klare Worte in der ehrwürdigen Rod-Laver-Arena sprach: „Es ist lächerlich spät“, gab der schottische Braveheart erschöpft und abgeschlagen zu Protokoll. Ein paar Minuten lag da sein greller 4:6, 6:7 (4:7), 7:6 (7:5), 6:3, 7:5-Sieg gegen den Australier Thanasi Kokkinakis zurück, ein ebenso denk- wie fragwürdiges Spektakel über zwei Turniertage, erst spätabends, dann mitten in der Nacht bis zum Morgengrauen. Matchball exakt um 4.05 Uhr Ortszeit.

Die späten Spielzeiten seien eine „absolute Farce“

„Was soll ich sagen? Es ist eine absolute Farce“, befand Murray, der Unermüdliche mit der Metallhüfte, nachdem er den 388. Ballwechsel in der 345 Minuten währenden Partie zum Triumph in der zweiten Australian-Open-Runde gewonnen hatte. Befragt zu seinen Qualitäten als Comeback-König, als Mann, der nun schon elf Mal in seiner langen Karriere einen 0:2-Rückstand auf Grand-Slam-Niveau wie ein Entfesselungskünstler wettgemacht hat, sagte der 35-Jährige stolz: „Ich habe halt ein großes Herz.“ John Fitzgerald, der Ex-Profi und Interviewer, darauf witzelnd: „Bei dir ist doch sicher alles groß . . .“ Murrays trockene Replik: „Ich bin nicht ganz sicher, ob meine Frau da zustimmen würde.“

Andererseits war weder Murray noch seinem Gegner Kokkinakis, noch den meisten früheren und aktuellen Profikollegen nach dem letzten fragwürdigen Spektakel zum Lachen zumute. „Das Ganze ist ein Wahnsinn“, meldete sich aus Amerika der einstige Weltranglistenerste und US-Open-Champion Andy Roddick zu Wort, „das sind keine vernünftigen Bedingungen.“

Ex-Profi Boris Becker spricht von Wettbewerbsverzerrung

Tatsächlich folgt der historische Auftritt von Murray und Kokkinakis einem Trend im Wanderzirkus zu immer mehr Matches zu immer späterer Stunde. Erholung nach dem Spiel ist da schwer möglich, wenn bald darauf das nächste wartet. „In der Regel findest du in den Stunden danach keinen Schlaf“, so Altmeister Boris Becker. Er nannte die späten Spiele „auch ein Stück weit Wettbewerbsverzerrung“. „In welcher Sportart spielt man bis vier Uhr morgens? Das ist nicht fair für die Spieler, die da weiterkommen“, sagte Becker angesichts der Tatsache, dass Murray an diesem Samstag schon wieder für sein Drittrundenmatch auf den Platz muss. Eine normale Vorbereitung auf die Partie sei für den Schotten gar nicht möglich.

Murray, der nun in zwei aufwühlenden Partien schon zehn Stunden und 34 Minuten auf dem Court verbracht hatte, wies bei einem kurzen Pressegespräch noch in der Nacht auf die „unwürdigen Verhältnisse“ für alle Beteiligten hin: für das Grand-Slam-Personal, die Sicherheitskräfte, speziell die Ballkinder. „Ich wäre schockiert, wenn eins meiner Kinder um fünf Uhr morgens von diesem Job zurückkommen würde.“

Turnierboss nimmt Stellung zur Kritik

Turnierboss Craig Tiley lässt seine Stars immer öfter abends antanzen, in der zweiten Major-Woche gibt es über den Tag viel Leerlauf, viele Doppel- und Mixedpartien, abends dann Einzelsessions der großen Namen. Verzögert sich der Turnierablauf, wird es indes schnell kritisch für den Stundenplan. Bei den diesjährigen Australian Open hatten erst extreme Hitze und dann starker Regen den Wettkampf durcheinandergewirbelt. Zahlreiche Ansetzungen mussten verschoben und am nächsten Tag nachgeholt werden. Er müsse das Turnier halt in 14 Tagen durchboxen, erklärte Tiley zur Kritik der Profis. Er versprach aber auch eine „intensive Analyse“ nach den Australian Open: „Wir werden sehen, was wir besser machen können.“

Selbst in Wimbledon und bei den French Open wird das Ende des Spielprogramms inzwischen immer weiter in den späten Abend ausgedehnt, Nachtschichten gibt es allerdings wegen der von Anwohnern eingeklagten Sperrstunden nicht. Unter Flutlicht ging dennoch schon manches Duell über die Bühne, in London gerne auch mal mit Sir Andrew Barron Murray. Ihn könne nichts glücklicher machen als diese Kämpfe, sagte er.

Murray – Ein Kämpfer mit Metallhüfte

Abschreiben sollte man diesen Murray jedenfalls nie. Seine „Liebe zum Spiel, zum Wettkampf und Respekt“ würde ihn niemals aufgeben lassen, sagte er. Deswegen ist er nach seiner Hüft-Operation und dem Rücktritt 2019 auch wieder auf den Platz zurückgekehrt. „Die Tatsache, dass ich mich trotz Metallhüfte immer noch mit den besten Spielern der Welt messen kann, darauf bin ich stolz“, hatte der vor vier Jahren zum Ritter geschlagene Brite einmal gesagt.

In Melbourne wartet in der dritten Runde am Samstag der an Nummer 24 gesetzte Spanier Roberto Bautista Agut als nächster Gegner. Fünf Mal erreichte Murray bereits das Finale beim ersten Grand-Slam-Turnier des Jahres, zuletzt allerdings vor sieben Jahren. Murray wird bis zum letzten Punkt um seine Chance kämpfen. „Ich liebe es, mein Herz auf dem Platz zu lassen, Emotionen zu zeigen. Ich bin dafür viel kritisiert worden über die Jahre. Aber so bin ich.“