An der Wasserstelle: Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos. Foto: AFP/ANGELOS TZORTZINIS

Die vergangenen Jahre haben eskalierend gezeigt, dass die EU nicht noch mehr Asyl-Regeln braucht . Nein, was Europa endlich braucht, ist der erklärte Wille aller, das Flüchtlingsproblem ohne nationale Egoismen zu lösen, meint Redakteur Wolfgang Molitor.

Brüssel - Man mag es der EU-Kommission zugutehalten, dass sie aller frustvoller Ermattung zum Trotz nicht müde wird, neue Bewegung in die seit fünf Jahren festgefahrenen Verhandlungen über eine tragfähige Asylreform zu bringen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will ein Zeichen des Aufbruchs setzen, um die gefährliche Blockade zu lösen – und muss doch befürchten, am Ende mit leeren Händen dazustehen.

Zweifel an der Reform

Drei Szenarien sollen nach den Vorschlägen der Kommission für die halbwegs breite Akzeptanz einer gemeinsamen europäischen Migrationspolitik sorgen – in der vagen Hoffnung, damit möglichst allen höchst unterschiedlichen Interessen gesichtswahrend entgegenzukommen. Ob das gelingt, darf bezweifelt werden. Das, was jetzt aus Brüssel kommt, ist mehr ein weiteres vorsichtiges Herantasten, die Gemeinschaft der 27 zumindest auf dem Papier auf eine Linie zu bringen. Ein Herumdoktern an Befindlichkeiten. Mehr diplomatisch routiniert als politisch ambitioniert. Frei nach einem sarkastischen Satz von Mark Twain: Kaum verloren wir das Ziel aus den Augen, verdoppelten wir unsere Anstrengungen.

EU braucht nicht noch mehr Regelungen

Die vergangenen Jahre haben eskalierend gezeigt, dass die EU nicht noch mehr Regelungen braucht, die Flüchtlingsströme stärker zu begrenzen und besser zu kanalisieren. Es geht auch nicht um Ressourcen oder fehlendes Geld. Schließlich flossen bisher in die beiden am meisten betroffenen Außengrenze-Länder Italien und Griechenland Milliarden-Hilfen: nach Rom seit 2015 gut eine Milliarde Euro, nach Athen über 2,8 Milliarden. Die Behauptung, ein ignorantes Europa lasse die beiden Länder mit ihren großen Problemen allein, ist eine Mär.

Nein, was Europa endlich braucht, ist der erklärte Wille aller, das Flüchtlingsproblem ohne nationale Egoismen und Querschüsse in einem europäischen Konsens zu lösen. Solange hier von nicht wenigen Staaten Widerstand ritualisiert wird, bleibt jede Reform-Initiative der Kommission ein laues Lüftchen, bleibt man weiter heillos zerstritten. Agiert unselig zwischen strikter Verweigerung und nationalen Alleingängen.

Noch deutet nichts darauf hin, dass sich an der Selbstblockade der EU etwas ändern wird. Im Gegenteil: Die Kommission akzeptiert die starre Haltung Polens und Ungarns, die jede Kooperation verweigern. Die Solidaritätsboykotteure sollen ausdrücklich nur in absoluten Ausnahmefällen zur Aufnahme von Flüchtlingen verpflichtet werden. Von einem gerechten Verteilschlüssel ist nicht die Rede. Eleganter als von der Leyens Kommission kann man nicht in die Knie gehen.

EU will Anzahl der Flüchtlinge verringern

Überhaupt: Im Endeffekt hat die Kommission klar gezeigt, dass es ihr Ziel ist, die Anzahl der Menschen zu verringern, die Europa als Fluchtziel anstreben, und den Flüchtlingszuzug kontrolliert klein zu halten. Das zeugt nicht nur von einem nüchternen Blick auf die Lage, sondern sendet, aller lenkenden Hilfen und unterstützenden Konzepte zum Trotz, ein klares Signal. Die EU hält deshalb – wenn auch mit neuen Ausnahmen – nicht nur an den komplizierten Dublin-Regeln fest. Sie will zudem mit Vorüberprüfungen mehr über den Status der Flüchtlinge erfahren, um besser über ihre Fluchtgründe und schnelle Rückführungen entscheiden zu können.

Der Kommission geht es um Abwehr und Abschiebung. Nicht zuletzt um Abschreckung jener, die sich auf den Weg nach Europa machen wollen. Der dramatische Konflikt der Mitglieder zwingt die EU, zuerst an sich selbst zu denken. Jetzt müssen die Regierungen Farbe bekennen. Eine perfekte Lösung gebe es nicht, sagt Innenkommissarin Ylva Johansson. Nur eine ausgewogene. Von einer praktikablen redet niemand.

wolfgang.molitor@stuttgarter-nachrichten.de