Außenminister Heiko Maas (SPD): Lage hat niemand richtig eingeschätzt. Foto: AFP/ODD ANDERSEN

Die Bundesregierung behauptet, weder sie noch Verbündete hätten von bevorstehenden Taliban-Offensiven oder dem Zustand der afghanischen Sicherheitskräfte und Regierung gewusst. Dabei sind seit April selbst öffentliche Quellen voll von Hinweisen. Und im Weißen Haus wurden die Berichte der Nachrichtendienste seit Juli immer pessimistischer, berichtet die New York Times.

Stuttgart -

Stimmt es, was die drei Redakteure der „New York Times“ herausfanden, sind die Aussagen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Heiko Maas (SPD) zumindest merkwürdig. Beide werden nicht müde zu versichern, auch die Nachrichtendienste der Partner hätten keine Informationen über den raschen Zusammenbruch der afghanischen Streitkräfte und der Machtübernahme durch die Taliban gehabt, man sei überrascht worden.

Seit April, so das US-Journalistentrio, hätten die US-Nachrichtendienste vor einem raschen Vormarsch der Taliban und einer schnellen Machtübernahme gewarnt. „Im Juli wurden die Geheimdienstberichte immer pessimistischer und bezweifelten, dass die afghanischen Sicherheitskräfte ernsthaften Widerstand leisten würden, dass die Regierung in der Hauptstadt Kabul standhalten könnte“, schreiben die drei. Von einem „Trommelfeuer der Warnungen im Laufe des Sommers“ berichten sie.

In der Tat warnen die US-Dienste in ihrer für jedermann zugänglichen, jährlichen Bedrohungsanalyse, dass 2021 die „Taliban wahrscheinlich auf dem Schlachtfeld Gewinne erzielen und die afghanische Regierung Mühe haben wird, die Taliban in Schach zu halten“. Die Terroristen seien „zuversichtlich, einen militärischen Sieg erringen zu können“. Fraglich ist: Selbst für den Fall, dass die USA dem Partner Deutschland ihre für das Weiße Haus erstellten Einschätzungen vorenthalten haben, warum zog dann die Bundesregierung zumindest aus den öffentlich zugänglichen Analysen keine Konsequenzen?

UN-Dokumente schildern Lage in Afghanistan

Zumal diese am 21. Juli durch eine öffentlich zugängliche, besorgniserregende Analyse des UN-Sicherheitsrates ergänzt wurde. In ihr zeigen sich die Mitgliedsstaaten besorgt über eine Verlagerung von Kämpfern „insbesondere nach Afghanistan, falls das Umfeld dort für den Islamischen Staat (IS) oder mit Al-Kaida verbündeten Gruppen günstiger wird“. Die Anti-Terror-Abteilung der UN registriert, dass die Terrororganisationen „Korridore eingerichtet haben, um Kämpfer aus der syrisch-arabischen Republik nach Afghanistan zu schleusen, um dort seine Truppenstärke zu erhöhen“, dass Al-Kaida sich darauf vorbereite, „eine aktivere Rolle in Afghanistan zu spielen“, der IS Pläne priorisiere, „unter enttäuschten Taliban Kämpfer für eigene Operationen“ in Afghanistan zu gewinnen.

Bereits am 1. Juni zeichnet der Koordinator für Analysen und Überwachung von Sanktionen der UN, Edmund Fitton-Brown, ein düsteres Bild der Lage am Hindukusch: „Die Botschaft der Taliban ist nach wie vor kompromisslos, und es gibt kein Anzeichen dafür, dass sie das Ausmaß der Gewalt verringert.“ Im Gegenteil seien sie überzeugt, ihre Ziele auch „mit Gewalt erreichen zu können“. Zumal sich „eine große Anzahl von Al-Kaida-Kämpfern und anderen ausländischen, extremistischen Elementen, die mit den Taliban verbündet sind, in verschiedenen Landesteilen Afghanistans befinden“. Die Verbindungen zwischen Taliban und der Terrororganisation Al-Kaida sei „unverändert eng“. Die Rhetorik der Taliban lasse darauf schließen, „dass die Gruppe ihre Militäroperationen im Jahr 2021 wahrscheinlich verstärken wird“, schreibt Fitton-Brown.

Öffentlich zugängliche Informationen, die die Bundesregierung offensichtlich nicht in ihrer Lagebeurteilung berücksichtigte. Die aber nachdrücklich jene Berichte stützen, über die die Journalisten der „New York Times“ jetzt berichten. Die lassen den früheren Direktor des US-Geheimdienstausschusses im Repräsentantenhaus, Timothy S. Bergreen auch erklären, warum die Informationen sehr wahrscheinlich zur Seite gewischt wurden: „Das Geschäft der Geheimdienste besteht nicht darin zu sagen, die afghanische Regierung wird am 15. August stürzen. Aber was jeder (nach der Lektüre der Berichte) wusste war, dass die Afghanen ohne Verstärkung internationaler Streitkräfte nicht in der Lage waren, sich selbst zu verteidigen oder zu regieren.“