Die 116 117 gilt bundesweit – und ist überlastet. Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Klagen hier, Beschwerden da: Der telefonische Patientenservice steht in der Kritik. Betroffene berichten von quälend langen Wartezeiten, zum Beispiel um den Tod eines Angehörigen feststellen zu lassen. Ist Besserung in Sicht?

Es ist ein Sonntagnachmittag im Hochsommer, als die Frau stirbt. Die rüstige Seniorin war im Vorgarten ihres Hauses zusammengebrochen, der Tod kam rasch und plötzlich. Schnell kommt die Familie zusammen, der Sohn, die Enkel. Sie stehen dem Witwer bei, wollen das Unvermeidliche in die Wege leiten, von einem Arzt den Tod feststellen lassen, um den Bestatter informieren zu können. Sie wollen dafür den ärztlichen Bereitschaftsdienst anrufen. Dessen Nummer wählt auch der Mann Ende 40. Er lebt allein, hat sich mit dem Coronavirus infiziert, schmeckt nichts mehr, hat Kopfschmerzen, fast 40 Grad Fieber, Herzrasen. Nachdem ein Tag vor Heiligabend zweimal sein Kreislauf versagt und die Vertretung seines Hausarztes ihn am Telefon abweist, gerät er in Panik.

Wartezeiten bis zu acht Stunden

So verschieden diese realen Fälle sind, eines haben sie gemein: Es wird ein Arzt benötigt. Der ärztliche Bereitschaftsdienst soll außerhalb der Sprechstunden des Hausarztes rund um die Uhr unter der Nummer 116 117 zu erreichen sein. Bundesweit für alle Menschen, die mit ihrem Leiden sonst in die Arztpraxis gehen würden und deren Behandlung nicht bis zum nächsten (Werk-)Tag warten kann.

Aber bei der 116 117 landen viele Anrufer nur in der Warteschleife – und werden im schlimmsten Fall automatisch rausgeworfen. Aus Ditzingen berichtet die geschäftsführende Pflegedienstleiterin der Sozialstation, Margit Weiß, von bis zu acht Stunden Wartezeit. Gleichwohl sagt sie: „Es läuft auch vieles gut.“ Jedoch, im Zweifel liegt die Leiche nach wie vor im Vorgarten, wenigstens notdürftig abgedeckt. Und der Infizierte braucht weiterhin Hilfe. Er ruft schließlich die 112 an, die für medizinische Notfälle, für Menschen in Lebensgefahr gedacht ist. Ein Rettungswagen kommt.

Patientenservice „immer mehr ausgeweitet“

Die 116 117 stellt die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KV) bereit. Dort kennt man das Problem. „Wir sind mit der Situation nicht zufrieden und stellen uns eine bessere Erreichbarkeit vor“, sagt Kai Sonntag, der Sprecher der KV Baden-Württemberg. Warum Menschen in der Warteschleife landen? Der Service ist überlastet. Es rufen offenbar Leute an, die nicht anrufen sollten. Zu viele. Kai Sonntag erklärt das mit Änderungen durch den Bundesgesetzgeber. Ursprünglich eingeführt für den ärztlichen Bereitschaftsdienst, um medizinisch notwendige Hausbesuche zu vermitteln, habe der Gesetzgeber den Patientenservice „immer mehr ausgeweitet“, ihn zum Beispiel auch zur Terminservicestelle gemacht. Nach dem Beginn der Coronapandemie konnte man sich sogar einen Impftermin holen.

Kai Sonntag spricht von einem „Einstieg für eine Inanspruchnahme der Nummer, die nichts mit dem Ursprung zu tun hat“. Das führt dazu, dass die 116 117 für alles genutzt wird, was nicht unter die 112 fällt. „Dafür waren die Kapazitäten nie ausgelegt“, sagt Kai Sonntag. Erst recht nicht für die vielen coronabezogenen Anliegen der Anrufer. Auch als der Krieg in der Ukraine losging, sei die Zahl der Anrufer „massiv“ gestiegen. „Gerade am Wochenende haben viele Menschen Panik bekommen.“ Die jüngste Infektionswelle schlage gleich doppelt zu: Es wird auch das Personal am Telefon krank.

KV sieht auch Patienten in der Pflicht

Dieses medizinische Fachpersonal in den Callcentern, bei denen die Anrufe eingehen, habe die KV im Land „permanent“ aufgestockt. „Die Mitarbeiterzahl haben wir von 2021 auf 2022 von 51 auf 124 mehr als verdoppelt und zugleich für einzelne Gebiete noch einen externen Dienstleister mit engagiert.“ Auch wurden laut Sonntag interne Prozesse verbessert. All das habe die Situation entspannt.

Doch wie es aussieht, reicht das nicht aus. Weil es medizinisches Fachpersonal nicht unbegrenzt gebe, sieht der KV-Sprecher auch die Patienten in der Pflicht. Zwar sei die Abwägung, ob ein Anruf nötig ist oder ob man direkt eine der 120 Notfallpraxen im Land aufsucht, oft schwer. „Uns wäre aber sehr viel geholfen, wenn die Menschen verstehen würden, was die Aufgabe des Personals ist: Bei akuten Beschwerden, die nicht warten können, zu helfen.“ Es hat zu entscheiden, ob der Notarzt zu kommen habe, der Bereitschaftsdienst aus der Notfallpraxis – oder ob der Patient dorthin fahren soll. Medizinische Beratung indes zähle nicht dazu.

Was Hinterbliebenen helfen würde

Den Kranken, den Angehörigen und auch Bestattern hilft das derweil nicht weiter. Sarah-Kim Widmann ist im gleichnamigen Bestattungsunternehmen ihres Vaters in Gerlingen tätig. Auch sie hat bisweilen Angehörige am Telefon, die keinen Arzt erreichen. Widmann ist nach eigenen Angaben zwar rund um die Uhr in Bereitschaft, kommt aber erst, wenn ein Arzt den Tod festgestellt hat. „Was schon sehr helfen würde, wäre, die Erreichbarkeit zu verbessern. Sie ist wichtiger als die Reaktionszeit.“ Ob der Arzt in einer halben Stunde komme oder deutlich später, sei nicht mehr so wichtig, wenn die Angehörigen wüssten, dass man sich um ihr Anliegen kümmere. Selbst wenn ein Seelsorger das Telefonat entgegennehme, würde das den Hinterbliebenen helfen. Denn diese seien in der Situation überfordert. „Sie wollen hören, dass es weitergeht.“

Widmann würde sich eine Verbesserung wünschen für die Angehörigen, die Leitstelle und die Ärzte, „weil jeder der Leidtragende ist“. Zugleich plädiert sie bei dem Thema insgesamt für mehr Aufklärung: „Es wissen nicht viele, dass sie in solchen Situationen die 112 nicht anrufen sollen.“ Den Handlungsbedarf habe der Bundesverband Deutscher Bestatter bereits thematisiert.

Warten nach Ankündigung aus dem Gesundheitsministerium

Auch die Politik verhehlt den Handlungsbedarf nicht. „Die KV muss entsprechend ihrem Sicherstellungsauftrag dafür sorgen, dass die Menschen, die nicht wirklich einen Rettungsdienst oder eine Notaufnahme benötigen, im niedergelassenen Bereich Hilfe bekommen“, sagt der Vaihinger CDU-Landtagsabgeordnete Konrad Epple. Dafür bedürfe es nicht nur eines ausreichenden Angebots im kassenärztlichen Bereitschaftsdienst, sondern es müssten auch einheitliche Verfahren und Prozesse festgelegt werden, um Patientinnen und Patienten so zu steuern, dass sie auf der für sie passenden Versorgungsebene landen und dort auch tatsächlich ausreichende Ressourcen vorhanden sind. Letzteres obliege vorrangig der Bundespolitik. Der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) habe im März 2022 angekündigt, dass es noch im selben Jahr zu einer Notfallreform kommen solle. „Bisher haben wir hier leider nichts Neues mehr gehört“, bedauert Konrad Epple.

Der Grünen-Landtagsabgeordnete Markus Rösler hingegen erinnert die KV an ihre vor einem Jahr gemachten Zusagen, unter anderem die Wartezeiten deutlich zu reduzieren, um schnellstmögliche Hilfe gewährleisten zu können. „Dass es um die Weihnachtszeit im Kreis Ludwigsburg noch zu Problemen kam, wird auch am überall hohen Kranken- und Urlaubsstand zu dieser Zeit gelegen haben und hoffentlich mittlerweile eher eine Ausnahme sein.“

Regierungskommission arbeitet Vorschläge aus

Das wird auf Bundesebene anders gesehen. „Wer die 116 117 anruft, darf beim zweiten Versuch nicht erneut den Besetzt-Ton hören“, sagt der Ludwigsburger SPD-Bundestagsabgeordnete Macit Karaahmetoglu. Das Problem existiere bundesweit. „Deshalb müssen wir auf Bundesebene schnellstmöglich etwas ändern“, sagt er mit Verweis auf den Koalitionsvertrag. Derzeit arbeite eine Regierungskommission Vorschläge aus. „Vorgesehen ist, dass die Rettungsleitstellen und die Leitstelle der KV vernetzt werden – also die Telefonnummern 112 und 116 117.“

So lange will Reinhard Ernst nicht warten. In seiner Funktion als Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft SAPV (spezialisierte ambulante Palliativversorgung) mit Sitz in Leonberg liegen ihm Beschwerden aus ganz Baden-Württemberg vor. Seit dem Beginn der Dokumentation im Frühjahr 2022 sind es zwölf. Reinhard Ernst spricht von „der Spitze des Eisbergs“. Er hat jetzt eine Sammelbeschwerde an die KV eingereicht.

Die 116 117 wird eingeführt und im Land der Notfalldienst reformiert

Anstieg
 Die 116 117 ist eine gefragte Servicenummer. „2022 haben unsere eigenen Callcenter knapp 440 000 Anrufe entgegengenommen“, sagt Kai Sonntag, der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Baden-Württemberg. Der Dezember sei der Spitzenmonat gewesen – mit etwas mehr als 47 000 Anrufen. Zu den zwei KV-Callcentern in Mannheim und Bruchsal kommt ein extern betriebenes Callcenter dazu. Die Vergabe von Impfterminen in der Coronapandemie über die Nummer hatte die Bekanntheit der 116 117 extrem erhöht. So hatten sich 2021 die Anrufe bundesweit mehr als vervierfacht: auf insgesamt 77 Millionen. Mehr als 80 Prozent dieser Anrufe seien Anfragen zu Corona gewesen.

Umbau
 Vor gut zehn Jahren gab es außer der europaweiten 112 keine zentrale Notrufnummer. Und der ärztliche Bereitschaftsdienst für Menschen, die außerhalb der Sprechstunden ärztlichen Rat suchten, wurde noch in Hausarztpraxen abgehalten statt in Notfallpraxen in Kliniken. Dann hat die Kassenärztliche Bundesvereinigung die 116 117 eingerichtet. Seit Mitte 2015 gilt sie auch in Baden-Württemberg für den ärztlichen Bereitschaftsdienst. Auch neu war, dass die Anrufe landesweit zu den Leitstellen des Roten Kreuzes verbunden wurden. Seit dem Jahr 2022 läuft der ärztliche Notdienst über die Callcenter der KV.