Der große Pelé wird unvergessen bleiben. Foto: dpa/Marcelo Sayao

Der dreimalige Weltmeister aus Brasilien hat das Spiel seinerzeit neu erfunden und ihm eine nie dagewesene Schönheit verliehen. Nun ist der größte Fußballer des vergangenen Jahrhunderts im Alter von 82 Jahren gestorben. Die Welt trauert um eine Ikone des Sports.

Wenn einem der Allmächtige begegnet, vergisst man das nie. Am 1. Juni 1978 war es, im River-Plate-Stadion in Buenos Aires. Die deutschen Fußballer waren gerade dabei, die WM mit einem langweiligen 0:0 gegen Polen zu eröffnen, und nach dem Halbzeittee im Pressezentrum bestieg der Schreiber hier wieder den Aufzug zur Tribüne. Da griff von außen eine Hand in die Tür, und die dazugehörige tiefe Stimme sagte: „Darf ich auch mit?“

Als jungem Reporter fällt einem in einem solchen Moment nichts mehr ein, vor allem keine gescheite Frage. Immerhin ist mir das kürzeste Interview meines Lebens gelungen.

„Gefällt Ihnen das Spiel?“, fragte ich.

Der traurigste Tag

„Naja“, sagte Pelé. Während ich krampfhaft nach einer weiteren Frage suchte, ging gottseidank der Aufzug wieder auf, und die Lichtgestalt entschwand auf die Tribüne.

Die Erinnerung an den unvergesslichen Augenblick war immer ein gutes Gefühl wert, aber nicht heute. Heute ist kein guter Tag. Für den Sport ist es sogar der traurigste Tag, seit Muhammad Ali starb. „Der Weltmeister im Schwergewicht“, dichtete einst Norman Mailer, „ist der große Zeh Gottes.“ Diesmal ist es der andere große Zeh.

Pelé ist tot.

Der Brasilianer war „O Rei do Futbol“, der König des Fußballs. Den Älteren unter uns muss man das nicht sagen, dank der Gnade der frühen Geburt wissen sie alles. Doch die Jungen kennen nur Messi und Ronaldo, oder aus dem letzten Jahrhundert allenfalls noch Maradona, und sie fragen sich jetzt schulterzuckend: Wer war Pelé?

Traumhafte Flackerbilder

Haben Sie acht Sekunden Zeit? Wollen Sie wissen, wer der tollste Torjäger und hinreißendste Magier in der Geschichte des Fußballs war? Wollen Sie der Ungnade Ihrer Spätgeburt ein Schnippchen schlagen und sich mit eigenen Augen den ästhetischen Genuss seines hinreißenden Ballzaubers gönnen? Dann drücken Sie kurz auf den Knopf – ein Klick genügt: http://www.youtube.com/watch?v=k1tKmCgF0sE.

Manege frei – König Pelé.

Das weltweite Netz ist die wunderbarste Fundgrube im Kampf gegen die Vergänglichkeit. Mit seinen Videoschätzen sorgt es dafür, dass die Akrobatenstücke, die Pelé der Welt vorgeführt hat, nicht plattgewalzt werden vom Rad der Zeit. Acht Sekunden dauern diese schwarz-weißen Flackerbilder, und danach weiß jeder, warum dieser 17-jährige Wunderknabe von der Fifa zum „Fußballer des Jahrhunderts“ und vom IOC zum „Sportler des Jahrhunderts“ gekürt worden ist.

Wie ein Aal unterwegs

Dass ein großes Kind das Endspiel einer Fußball-WM entscheidet, ist schon außergewöhnlich genug – aber das Verrückteste an jenem 29. Juni 1958 im Stockholmer Rasunda-Stadion war dieser Vorfall in der 55. Minute: Der Ball fliegt in den Strafraum, der Zauberknabe lässt ihn abtropfen von der Brust, schlängelt sich wie ein Aal am tapsigen Schweden Parling vorbei, jongliert ihn dem langen Gustavsson über den Scheitel, Drehung, Schuss, Tor. Von da an war Fußball mehr als ein Spiel im Gras.

Fußball, das war jetzt Pelé.

Nach dem Abpfiff hat er an der Brust seines Torwarts Gylmar damals Rotz und Wasser geheult – doch reden wir nicht von Pelés Gefühlen, sondern von unseren. Auch wir waren Kinder, und dieser Zauberer hat uns überwältigt und zum Lachen gebracht, wir haben ihn genossen wie das Glück, zur richtigen Zeit auf die Welt gekommen zu sein. Die Wunden des Kriegs waren uns erspart geblieben, stattdessen jagten sich plötzlich die Wunder, das Wirtschaftswunder, das Fußballwunder 1954 von Bern – und durch das Wunder der Technik und die ersten Flimmerkästen kamen wir auch noch in den Genuss des achten Weltwunders: Pelé.

Verrücktes Jahr

1958 war ein turbulentes Jahr. In Moskau wurde Nikita Chruschtschow Ministerpräsident, Fidel Castro griff mit seinen Rebellen Havanna an, der Schah von Persien trennte sich wegen Kinderlosigkeit von Prinzessin Soraya, die Amis schossen eine Maus ins Weltall – aber die größte Show war Pelé.

In einer alten Schrift ist der sagenhafte Zauber durch einen Geschichtsschreiber folgendermaßen überliefert: „So einen Fußball hatte man noch nie gesehen. Fußball wie Jazzmusik, aber ohne Noten, nur nach dem Ohr, mit dem Herz, dem Gefühl – die Zuschauer sperrten Mund und Augen auf.“ Pelé war der erste Fernsehstar des Fußballs. Der Strafraum war seine Varietebühne, der Ball klebte ihm am Schienbein und an den Sohlen, nie sprang er ihm vom Fuß, diesem Zauberknaben mit Schuhgröße 38. Das waren die Latschen eines großen Kindes, und so spielte er auch – aus dem Bauch heraus.

Jeder wollte sein wie er

„Sogar der Ball bat Pelé um ein Autogramm“, hat ein brasilianischer Radioreporter behauptet, und selbst wir deutschen Buben, die Boss Rahn und Uwe Seeler hatten, wollten auf dem Bolzplatz Pelé sein: Seinen kompletten Namen – Edson Arantes do Nascimento – ließen wir uns fehlerlos auf der Zunge zergehen, und seinen Lebenslauf hätten wir vorwärts und rückwärts aufsagen können: Sohn eines Tagelöhners und einer Wäscherin, geboren in den Slums von Tres Coracoes, mit 15 Profi beim FC Santos, mit 16 das erste Länderspieltor – und jetzt war er 17, und unsere Mütter mussten uns eine „10“ aufs Turnleibchen nähen.

Es ist zweifellos leichter, einem Hamster das Rhönradfahren beizubringen, als eine vernünftige Antwort auf die knifflige Frage zu finden, wer besser war: Pelé oder Diego Maradona? Fest steht: Der Brasilianer hat in 1363 Spielen schier unfassbare 1284 Tore geschossen. Nach dem tausendsten, 1969 im Maracana-Stadion in Rio, ist minutenlang das Spiel unterbrochen worden, noch im tiefsten brasilianischen Regenwald wurden die Glocken geläutet, und die Regierung hat einen Feiertag ausgerufen und eine Sonderbriefmarke gedruckt. 1970 wurde Pelé in Mexiko dann zum dritten Mal Weltmeister, als Krönung einer der Perfektion nahen Offensive mit Jairzinho, Gerson, Tostao und Rivelino. Er zeigte nochmal die virtuosesten Tricks, schoss mit links und rechts, und bei seinem Kopfballtor im Finale sprang er höher als die italienischen Abwehrriesen. Er war Spielmacher und Sturmspitze und alles in allem so vollkommen, dass Franz Beckenbauer ahnte: „Pelé hat den Fußball in einer Erstklassigkeit gespielt, die keiner mehr erreichen wird.“

Der Kaiser hat leicht reden

Der deutsche Fußballkaiser hatte über den König leicht reden. Er hatte das Vergnügen, mit dem Größten in der Blüte seiner Schaffenskraft noch persönlich zu kombinieren, in der US-Liga für New York Cosmos. Dort feierte Pelé 1977 seinen Abschied als Hexer und Magier. Später wurde er UN-Sonderbotschafter für Entwicklungsprojekte, in Brasilien sogar beratender Sportminister, außerdem gründete er eine Sport-Marketing-Agentur und machte als Werbeträger weltweit Reklame für American Express, Pepsi und Viagra – die Nachricht, dass er zwei uneheliche Töchter gezeugt hatte, trug diesbezüglich durchaus zu Pelés Glaubwürdigkeit bei.

Der Fußball blieb auch als Experte bis zum Ende sein Leben, und Pelé lebte gut davon. Zweitausend seiner Erinnerungsstücke brachte das Auktionshaus „Julien’s“ unter den Hammer, für fast fünf Millionen Dollar. Er wolle Gutes tun, betonte Pelé und spendete einen Teil des Erlöses an ein Kinderkrankenhaus. Ein großes Herz hatte er – doch mit den Füßen war er ein Gedicht. Keiner hat diese Einmaligkeit besser beschrieben als Pelé selbst: „Warum Gott ausgerechnet mir diese Gabe geschenkt hat, weiß ich nicht. Ich hätte in meinem Leben nur Fußball spielen können. Michelangelo hat gemalt, Beethoven Klavier gespielt – und ich Fußball.“