Sehnsucht nach Utopie: Uwe Timm Foto: dpa/U. Anspach

Als junger Mann hat Uwe Timm Tieren das Fell über die Ohren gezogen. Als einer der großen Autoren unserer Zeit hüllt er die Geschichte in seine packenden Erzählungen. Höchste Zeit, ihn wieder zu lesen.

Stuttgart - Als junger Mann hat Uwe Timm in der Hamburger Kürschnerwerkstatt seines Vaters gelernt. Kürschner hantieren mit Fellen, sie sortieren und schneiden und kennen sich gut aus mit dem schönen, seidigen Schein – und dem, was darunterliegt. Welchen Eindruck die Geschichten, mit denen man sich am langen Werktisch die Zeit vertrieb, auf den jungen Lehrling hatten, kann man in der Erzählung „Der Freund und der Fremde“ nachlesen. Vielleicht rührt hier auch die Lust her, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Nicht als Wolf im Schafspelz, aber zum Beispiel als jener Ullrich Krause, der in der Zeit zwischen dem Mord an Benno Ohnesorg und dem Attentat auf Rudi Dutschke in den Sog der Studentenrevolte gerät.

Mit dem Roman „Heißer Sommer“ über den Aufbruch der 68er-Generation gelang dem gelernten Kürschner, der nach dem Bankrott des väterlichen Geschäfts auf die Schriftstellerei umsattelte, 1974 der Durchbruch. Es war die Geburt eines der großen deutschen Erzähler, der sich gleichwohl immer in bescheidenere Gewänder kleidete, als seinem Rang zugekommen wäre. Einem breiten Publikum wurde er mit dem Kinderbuch „Rennschwein Rudi Rüssel“ bekannt, das sich – auch als Film – anhaltender Beliebtheit erfreut. Es folgte die ebenfalls verfilmte Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“, die Geschichte eines untergetauchten Deserteurs aus den letzten Kriegstagen.

In seinem zweiten Roman „Morenga“ zieht Timm den Schönzeichnungen der deutschen Kolonialgeschichte gründlich das Fell über die Ohren und legt die mörderische Niederschlagung des Herero-Aufstands schonungslos offen. Während der Kampf gegen das südafrikanische Apartheidregime in vollem Gange war, reiste er nach Afrika, um in Namibia für seinen Roman zu recherchieren.

Hoffnung auf Greta

Eine zentrale Rolle in Timms Werk spielt die kritische Aneignung der Geschichte. „Am Beispiel meines Bruders“ setzt sich mit der Familienhistorie auseinander und zeichnet ein differenziertes Porträt seines vom Nationalsozialismus verführten und im Krieg gefallenen Bruders Karl-Heinz.

Uwe Timm war mit Benno Ohnesorg befreundet, davon erzählt „Der Freund und der Fremde“. Die Gefährten der Revolte geistern auch durch die auf das Debüt folgenden Romane, zu Lehrern gebändigt oder als Beerdigungsredner wie in „Rot“. Was aus den einstigen Ideen geworden ist, wie sie in Karrierismus und Anpassung stranden, spielt Timm nüchtern und unbestechlich immer wieder durch, ohne den Geist utopischer Hoffnung je zu verraten. Im Vorwort der zu seinem achtzigsten Geburtstag an diesem Montag erschienen Essaysammlung „Der Verrückte in den Dünen“ taucht ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen auf, das mit einem selbst gemalten Schild zum Schulstreik für das Klima aufruft. „Hätte man diese Form des Schülerprotests und seine Wirkung vor zwei Jahren beschrieben, sie wäre als reine Utopie abgetan worden, so aber, durch die Tat, durch einen Verstoß gegen die Regel, konnte die reine Utopie zur konkreten werden.“

Eigentlich hätte Uwe Timm letzte Woche bei dem Sehnsuchts-Festival des Stuttgarter Literaturhauses auftreten sollen. Die Sehnsucht nach Utopie musste dem Pragmatismus der Virenbekämpfung weichen. Uwe Timm hat über den Autor der „Pest“, Albert Camus, promoviert. Er wird damit zurechtkommen.