Von Anfang an dabei: Viktoria Waltl im Jahre 1972 Foto: Waltl

Die Olympischen Spiele in München standen Pate. Dort gab es Hostessen, die berühmteste war Silvia Sommerlath, später Königin von Schweden. So was wollte man in Stuttgart auch haben. Viktoria Waltl war von Anfang an dabei. Und führt heute noch durch die Stadt.

Cola oder ein Viertele Wein. Was ist gesünder? Für einen Schwaben ist das keine Frage. Dieses über Generationen überlieferte Bauchgefühl kann Stadtführerin Viktoria Waltl (75) mit Fakten belegen. Cola ist lebensgefährlich.

Auf den Spuren von Häberle und Pfleiderer

Wenn die Stadtführerin die Stäffele treppauf und treppab stapft, auch auf den Spuren der schwäbischen Komiker Häberle und Pfleiderer, dann erzählt sie, dass für Willy Reichert alias Pfleiderer der Verzicht auf den Wein zum Tode geführt. „Reichert war 77 Jahre alt, als ihm sein Arzt aus gesundheitlichen Gründen den Wein verbot und ihm riet, Cola zu trinken, um den Kreislauf anzuregen“, erzählt Waltl. „Doch beim Colatrinken verschluckte sich Reichert so stark, dass er am anschließenden Hustenanfall starb.“

79 uneheliche Söhne

Solche Geschichten erzählt Viktoria Waltl seit 51 Jahren. Zu fast jedem Stein und jeder Ecke in dieser Stadt kennt sie eine Anekdote. Und kaum ein Genre lässt sie aus. Auch durch die Nacht hat sie schon geführt. Und weiß, dass es vor 300 Jahren am Hofe wild zuging. Herzog Carl Eugen konnte seinen Hosenlatz nicht geschlossen halten: 79 uneheliche Söhne hat er gezeugt, nur die Buben sind gezählt worden. Um den Überblick zu behalten, verfügte er, dass die von ihm beglückten Frauen blaue Schühchen zu tragen hatten.

Mit dem Schiff von San Francisco nach Hause

Zwischenzeitlich ging es ruhiger zu. Der Krieg und der Wiederaufbau fügten der Stadt schwere Wunden zu, die schwäbischen Tugenden standen in voller Blüte, und der Horizont reichte oft nur bis zum Kesselrand. Doch Viktoria Waltl wollte raus. Mehr sehen. Mehr erleben. Geboren im Charlottenhaus, ging sie auf die Waldorfschule, und ein Jahr nach Paris, um Französisch zu lernen. Danach zog sie weiter nach San Francisco, Ende der 60er Jahre, Anfang der 70er Jahre war die Stadt am Pazifik das Zentrum der Popkultur. Sie lernte Englisch, arbeitete als Au-Pair. „Eine interessante Zeit“, sagt sie nur kurz und knapp. Zurück nach Hause wollte sie mit dem Frachter. Da gab es nur ein Problem, sie war noch nicht 21und damit noch nicht volljährig. Und die Mutter wollte sie nicht Schiff fahren lassen. Lange schrieben sie hin und her. „Das war ein ewiger Briefwechsel“, erinnert sie sich. Bis schließlich ein Telegramm aus Stuttgart eintraf, darauf zwei Worte: „Gute Reise.“ Sie schiffte sich ein. Und schipperte über Japan, Hawaii, Hongkong und Singapur zurück nach Deutschland.

Touristen? In Stuttgart?

In der Heimat machte sie eine Ausbildung zur Buchhändlerin in Weises Hofbuchhandlung. „Das war interessant. Doch ich wollte meine Sprachkenntnisse nutzen“, sagt Waltl im Rückblick. Da traf es sich gut, dass der umtriebige Verkehrsdirektor Peer-Uli Färber mal wieder eine Idee hatte. Er wollte Touristen nach Stuttgart locken, die waren bis dahin so selten wie Nilpferde im Neckar. Doch Olympia in München wirkte ansteckend. Und zeigte, es kamen Menschen nach Deutschland, um sich umzuschauen und zu vergnügen. Das wollte Färber auch haben. Wie die Münchner engagierte er Hostessen. In zeittypischer altväterlicher Manier benannt: „charmante Gastgeberinnen der Landeshauptstadt“. Mit hellblauer Uniform und Pillbox, jenem neckischen schiefen Hütchen. Zunächst für ein freundliches Willkommen.

Applaus! Applaus!

Dann kam Färber auf eine weitere Idee. Stadtführungen. Auch Waltl wurde abkommandiert. „Meine allererste Führung war ein ziemlicher Graus“, erinnert sich Waltl, „ich habe mich mit Händen und Füßen gewehrt.“ Doch sie hatte keine Chance und musste die Gruppe aus Frankreich in ihrem Bus durch Stuttgart dirigieren. Offenbar machte sie ihre Sache recht gut, „ich wurde mit großem Applaus verabschiedet“.

Die Leichtathletik-WM als Initialzündung

Ihr hat es offenbar gut gefallen, auch 51 Jahre später führt sie immer noch durch Stuttgart. Egal, wo man mit ihr ist. Eine gute Geschichte fällt ihr immer ein. Etwa zum Eckhaus an der Rosenstraße im Bohnenviertel. Dort war die Werkstatt des Kutschenbauers Wilhelm Wimpff. Bei dem kaufte Gottlieb Daimler am 8. März 1886 eine Kutsche. Und baute einen Motor dran. Automobilhistorie. „Eine Stadt für Entdecker“, wie Waltl sagt. Folgerichtig hat sie auch keinen Lieblingsort, „es gibt so viele interessante Orte, die Stadt hat sich vor allem seit der Leichtathletik-WM 1993 sehr gemacht“. Mittlerweile klappe keiner mehr um 20 Uhr die Bürgersteige hoch.

Was machen U-Boot-Fahrer in Stuttgart?

Führungen aller Art hat Waltl schon gemacht, einstmals gab es eine bürgerliche, eine fürstliche und eine allgemeine Führung. Heutzutage sind es dutzende verschiedene. Für ein ganz unterschiedliches Publikum. Eine U-Boot-Besatzung hat sie schon durch Stuttgart geschleust, Feuerwehrleute, Panzerfahrer, eine selbst ernannte „Alte-Schachtel-Gruppe“, Frauen im besten Alter mit kleinen Schachteln am Revers. Schulklassen, „die so gar kein Bock auf die Oma haben“. Da helfe dann nur der Gang zum Rathaus, und ab in den Paternoster. Nett auch die zehn Zwölfjährigen im Alten Schloss, die sie packte als sie die Reitertreppe zeigte, auf der die Hochwohlgeborenen direkt zu Tisch ritten. Auf die Frage an einen Buben, was seine Mutter wohl sagen würde, wenn er auf einem Pferd beim Abendessen erscheinen würde, kam die trockene Antwort: „Hände waschen!“ Wenn es gut läuft bei so einer Führung, ist die Freude groß. „Einmal bin ich beschwingt mit der S-Bahn heim gefahren nach Winterbach. Bis ich gemerkt habe, ich war ja mit dem Auto hergefahren. Dann durfte ich wieder zurück.“ Aber sie ist ja gerne in Stuttgart. Immer noch. Oder besser gesagt. Wieder. „Während der Pandemie war es traurig, die menschenleere Stadt zu sehen.“

Sie wird nicht müde

Die Menschen sind wieder da. Die Touristen auch. Und natürlich auch Viktoria Waltl. Sie mag es selbst kaum glauben: „Mehr als 50 Jahre, das ist ein Wahnsinn.“ Gut zehn Mal im Monat marschiert sie los und erzählt von ihrer Stadt. Und weiß, was gesünder ist: Cola oder Wein.