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Zwei von drei Anrufern bei der Telefonseelsorge sind Frauen. Doch nun wagen auch Männer häufiger den Griff zum Telefon, um Sorgen loszuwerden. Experten sprechen von einer ungewöhnlichen Entwicklung.
Stuttgart (dpa/lsw) - Bei Trauer und Sorgen haben im vergangenen Jahr 45 000 Menschen Hilfe bei der Telefonseelsorge Stuttgart gesucht - unter ihnen immer mehr Männer. „Um Rat zu fragen, ist kein Tabu mehr, stellen wir fest“, sagte der Leiter der katholischen Telefonseelsorge Ruf und Rat, Thomas Krieg, am Montag bei der Vorstellung der Jahresbilanz 2015. Die Topthemen waren demnach Einsamkeit und Suizidgedanken. Insgesamt suchen in der Region Stuttgart mehr Menschen Hilfe bei der Telefonseelsorge, als die 160 ehrenamtlichen Zuhörer bewältigen können.
Die 45 000 Anrufe sind bei der katholischen und der evangelischen Telefonseelsorge aufgelaufen. Das sind den Angaben zufolge zwar 3000 Gespräche weniger als im Vorjahr - der Rückgang habe aber technische Ursachen bei der deutschlandweiten Verteilung von Mobilfunkanrufen. In ganz Deutschland wandten sich im Jahr 2015 gut 1,8 Millionen Hilfe- und Ratsuchende an die Telefonseelsorge der christlichen Kirchen.
Bisher sind etwa zwei von drei Anrufern weiblich (70 Prozent) - doch in der Altersgruppe der 20- bis 29-jährigen Anrufer meldeten sich in Stuttgart erstmals mehr Männer als Frauen am Telefon. „Das ist erstaunlich“, sagte Krieg. Bislang hätten Männer oft erst bei schwerwiegenden Problemen angerufen. „Es ist deutlich, dass ein Wandel eingesetzt hat.“ Ein Mann schäme sich heute nicht mehr, wenn er Hilfe suche. Wenn junge Männer zum Telefon greifen, habe das oft mit einer Rollenunsicherheit zu tun. „Viele Männer legen sich echt krumm für ihre Frauen und wundern sich dann, dass die Beziehung nicht funktioniert“, berichtete der Leiter der evangelischen Telefonseelsorge, Krischan Johannsen.
Doch immer weniger Ehrenamtliche wollten Dienst am Telefon schieben, sagte Krieg. „Wir spüren deutlich, dass sich viele Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe engagieren.“ Bei zunehmender gesellschaftlicher Verunsicherung sei das ein Problem. „Wir können den Bedarf überhaupt nicht decken“, sagte Johannsen.
Das Thema Flüchtlinge spiele oft am Rande der Gespräche eine Rolle, berichteten die Seelsorger. Manche Anrufer hielten Flüchtlinge für Konkurrenz, etwa um Sozialleistungen. „Das ist nicht realistisch, aber Empfinden der Leute, die im Prekariat leben“, sagte Johannsen. Unter allen Anrufern der Telefonseelsorge seien sowohl Akademiker als auch Menschen, die auf der Straße leben.