Einstimmung zum gemeinsamen Singen auf dem Schlossplatz: Die Lockerungsübungen machen sichtlich Spaß. Foto: Hauptmann Quelle: Unbekannt

Von Elke Hauptmann

Stuttgart - „Ich kann nicht singen“ - wer hat noch nie versucht, sich mit dieser Ausrede vor dem Ständchen für das Geburtstagskind zu drücken? Weil man glaubt, nicht gut genug zu sein? Blödsinn, meint Michael Betzner-Brandt. „Jeder kann singen.“ Beim Chorfest in Stuttgart lädt er die Besucher ein, in den Kanon einzustimmen. „Trauen Sie sich einfach!“

Beim Chorfest könnte man sich als Besucher bequem zurücklehnen und sich aufs Zuhören konzentrieren. Konzerte von Gesangsprofis gibt es schließlich jede Menge. Die meisten davon sind sogar kostenlos. Viel mehr Spaß macht es aber mitzusingen - und auch dazu gibt es reichlich Gelegenheit. Selbst für absolute Laien ohne Vorkenntnisse und Fähigkeiten. „Jeder, der sprechen kann, kann auch singen. Nur wissen das nicht alle“, meint Michael Betzner-Brandt, der den „Ich-kann-nicht-singen-Chor“ 2011 in Berlin ins Leben gerufen hat. Das Format hat mittlerweile bundesweit Nachahmer gefunden. Kein Wunder: „Singen ist gesund und macht gute Laune“, sagt der Chorleiter, der den Stuttgartern beim Chorfest das Singen ohne Noten lehrt.

Ein paar hundert Besucher haben sich auf dem Schlossplatz eingefunden, um ein ganz persönliches Experiment zu wagen. „Wer von Ihnen singt sonst nicht?“, will Betzner-Brandt wissen. Dutzende heben den Arm. Den Chorleiter verwundert das nicht: Einer Umfrage zufolge würden 78 Prozent der Deutschen selten bis nie singen. Das zu ändern, hat sich der Berliner zur Aufgabe gemacht. Denn: „Singen verbindet, Singen ist Kommunikation“.

Weil Singen laut Betzner-Brandt von innen kommt, heißt es zunächst lockermachen. „Erst den rechten Arm schütteln, dann den linken“, animiert er die Zuhörer. Dann das rechte Bein schütteln und das linke. Schließlich mit beiden Füßen nacheinander kräftig aufstampfen. „Und nun atmen Sie tief ein.“ Die „Schubber“-Übung mit einem Partner der Wahl sorgt für reichlich Lacher - und derart gut gelaunt kann dann auch das erste gemeinsame Lied angestimmt werden: „Kommense rein, könnense rausgucken“. Der Text wird auf einer großen Videoleinwand eingeblendet. Aber Textsicherheit, so Betzner-Brandt, sei gar nicht so wichtig. Beim Singen gelte „Persönlichkeit vor Perfektion“.

Der einsetzende Regen trübt die Stimmung unter den Möchtegern-Sängern nicht. Unter ihren Regenschirmen intonieren sie mit Inbrunst „Schubididu“, „Dinge-linge-ling“ und „Ba-ba-dib-du-da“ in allen Tonlagen. Es funktioniert vor allem deshalb, weil es Spaß macht. Die sensiblen Stimmen haben inzwischen jegliche Schüchternheit abgelegt. Und so absurd es klingt: Der Chor, der nicht singen kann, klingt richtig gut.

Betzner-Brandt lädt heute um 14 Uhr noch einmal zu einer öffentlichen Mitsingaktion auf dem Schlossplatz ein, morgen um 16.30 Uhr wird die Stuttgarterin Jeschi Paul dort mit ihren Sängern im Einsatz sein. Sie leitet seit 2014 den „Ich-kann-nicht-singen-Chor“ der Landeshauptstadt. Einmal pro Monat übt sie mit Sangesfreudigen. Das Angebot stößt auf wachsenden Zuspruch: Waren es zu Beginn gerade mal 20 Personen aus der gesamten Region, kommen mittlerweile bis zu 90 Stimmen jeden Alters zur unverbindlichen monatlichen Singstunde nach Zuffenhausen. Es ist keine feste Gruppe, gesungen wird immer wieder in anderer Zusammensetzung. Zum Chor sind alle eingeladen: Diejenigen, die bislang nur alleine singen; diejenigen die meinen, sie könnten nicht singen, und diejenigen, die sich bisher nicht zu singen trauten.

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