„Wir haben extra durchgelüftet“: Michael Mann vom städtischen Eigenbetrieb Stadtentwässerung Stuttgart (links) erläutert den Führungsteilnehmern die Funktionsweise der Stuttgarter Kanalisation. Quelle: Unbekannt

Von Jan-Philipp Schütze

Stuttgart - Mit dem tosenden Wasserstrom im Hauptsammler Nesenbach ist nicht zu spaßen. Inmitten des großen Abwasserkanals könnte schon ein kleiner Fehltritt auf dem schlüpfrigen Boden böse enden. Mit einer Geschwindigkeit von zwei bis drei Metern pro Sekunde strömt die dunkelbraune Brühe in einer breiten Rinne vorbei. „Wenn Sie da jetzt reinfallen, kommen Sie im besten Fall am Klärwerk wieder raus“, sagt Michael Mann. Nur gut also, dass der Mitarbeiter der Stadtentwässerung Stuttgart (SES) und seine Kollegen besonders aufpassen, dass hier niemand zu menschlichem Treibgut wird. Dass die Begehung von Abwasserkanälen beileibe kein Sonntagsspaziergang ist, wird den Führungsteilnehmern schnell bewusst: Zunächst werden sie über das sogenannte sicherheitsgerechte Verhalten von einsteigenden Personen in abwassertechnischen Anlagen aufgeklärt. Die Rede ist von giftigen Gasen, Sauerstoffmangel und einer möglicherweise explosionsfähigen Atmosphäre. Manch einem ist die Skepsis deutlich ins Gesicht geschrieben.

Immerhin hat jeder eine umfangreiche Schutzausrüstung erhalten. Weißer Ganzkörperoverall, Sicherungsgurt, Helm mit Stirnlampe, Gummistiefel, Einweghandschuhe - so ausgerüstet geht es zunächst zu Fuß an den Rand des Schlossgartens, wo schon alles für den Ausflug in die Kanalisation vorbereitet ist. Vor dem Abstieg in die Tiefe erläutert der 40-Jährige, der bei der SES sonst für die Planung von Kanalsanierungen und Neubauten zuständig ist, noch einmal die wichtigsten Bestandteile der Kanalarbeitersausrüstung. Dazu gehört unter anderem ein kleines Gaswarngerät. „Ohne das gehen wir nicht in den Kanal, denn wir wissen nicht, was uns dort erwartet“, sagt Mann. Da beruhigt es ungemein, dass die SES-Mitarbeiter auch ein kompaktes Atemschutzgerät mit Drucksauerstoff für etwaige Notfälle dabei haben. „Zudem haben wir heute extra gut durchgelüftet“, sagt Mann und grinst.

Über eine schmale Metallleiter geht es an einer Seilwinde gesichert hinab, mitten hinein in den ersten Abwasserkanal. Zum Aufrechtstehen ist es viel zu eng, notgedrungen müssen alle neben dem trüben Rinnsal in die Hocke gehen, das in der Mitte der 1,80 Meter durchmessenden Röhre fließt. Ziemlich stickig ist es hier unten, die Luft ist feucht und schwer. Aber: „Es stinkt gar nicht so schlimm, wie ich dachte“, meint eine Führungsteilnehmerin. Was daran liegt, dass die SES-Mitarbeiter den Kanal im Vorfeld extra gesäubert haben. Als zusätzlicher Service sind an einer Seitenwand Steckgeländer angebracht.

Bei der Röhre, die sich vor den Neugierigen in die Dunkelheit erstreckt, handelt es sich um einen der vielen größeren Zuflusskanäle unter der Stuttgarter Innenstadt. In ihnen kommt all das zusammen, was Privathaushalte und Gastronomie tagtäglich im Abfluss entsorgen. Was genau da in der trüben Suppe vorbei schwimmt, die vom Schein der Stirnlampen punktuell erleuchtet wird, will im Grunde keiner der Anwesenden so genau wissen. Der Kanal, berichtet Mann, wurde erst vor gut einem Jahr renoviert. Dabei wurde die alte Betonröhre aus dem Jahr 1899, die sich im Laufe der Zeit durch die vielen Belastungen verformt und tiefe Risse erhalten hat, von innen mit einem modernen Plastikrohr ausgekleidet. Im gebückten Gang, die linke Hand am Geländer, geht es nun mit quietschenden Gummistiefeln im Entenmarsch los. Wer unter Klaustrophobie leidet, ist hier eindeutig fehl am Platz.

Nach knapp 100 Metern mündet der Kanal abrupt in einen hohen Schacht. Von dieser Stelle aus, erklärt Mann, wurden damals die neuen Plastikrohre mithilfe des sogenannten Lining-Verfahrens eingeführt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Schachts ist die Öffnung des nächsten Kanalabschnitts zu sehen, der etwas höher verläuft. Dorthin, sagt Mann, gelange nur dann Wasser, wenn Regenfälle den Pegel in der Kanalisation ansteigen lassen. Sollte das gerade jetzt passieren, hätten die Führungsteilnehmer ein Problem. Bei Starkregen können sich selbst große Kanalrohre bis obenhin mit Wasser füllen. Der Blick auf die Wettervorhersage und ein spezielles Handy mit Regenwarnfunktion schützen die Kanalarbeiter vor lebensgefährlichen Überraschungen.

Heute ist jedoch kein Regen in Sicht, und so geht es durch den trockenen Kanalabschnitt weiter zum Hauptsammler Nesenbach. Der im Jahr 1890 erbaute und besonders großzügig dimensionierte Kanal, von dessen Decke dünne Wurzeln und Spinnfäden baumeln, ist gewissermaßen das Rückgrat der Stuttgarter Kanalisation. Auf einer Länge von 12,5 Kilometern führt er vom Stadtteil Vaihingen bis zum Schwanenplatz nahe des Neckars, wo er in einen anderen Kanal mündet. Bis zu 130.000 Liter in der Sekunde können den Hauptsammler an seinem Ende passieren. Sämtliche Kanäle unter der Landeshauptstadt werden regelmäßig auf Schäden und Ablagerungen kontrolliert. Nur etwa 15 Prozent von ihnen sind begehbar, meist nutzen die SES-Mitarbeiter fahrbare Kamerasysteme für ihre Inspektionen.

Nach gut einer Stunde gelangen die Führungsteilnehmer über eine schmale Treppe in einem Schacht zurück ans Tageslicht. Manch einer ist sichtlich froh, wieder an der frischen Luft zu sein. Den Mitarbeitern der SES ist die geruchsintensive Wanderung unter Tage derweil nicht auf den Magen geschlagen. Einer von ihnen marschiert erst einmal los, um für sich und seine Kollegen Pizza zu organisieren.

Die Stadtentwässerung Stuttgart

Zuständigkeit: Der Eigenbetrieb Stadtentwässerung (SES ) ist zuständig für die Ableitung und Behandlung der im Stuttgarter Einzugsgebiet anfallenden Abwässer. Darüber hinaus werden auch die Abwässer von den neun Nachbarstädten Ditzingen, Gerlingen, Esslingen, Fellbach, Remseck, Korntal, Kornwestheim, Leinfelden-Echterdingen, Ostfildern sowie vom Flughafen Stuttgart und der Messe Stuttgart mit behandelt.

Kanalisation: Die rund 370 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der SES sind verantwortlich für das unterirdisches Kanal-System von etwa 1750 Kilometer Länge, das seit 1874 in Stuttgart entstanden ist. Dazu kommen über 120 Regenüberlauf- und Regenrückhaltebecken. Das größte von ihnen befindet sich beim Mineralbad Leuze. Es ist etwa so groß wie eine Sporthalle und füllt sich bei starken Regenfällen innerhalb von vier bis fünf Minuten.

Klärwerke: Gereinigt wird das Abwasser von vier Klärwerken in den Stuttgarter Stadtteilen Mühlhausen, Möhringen und Plieningen (auf Gemarkung Ostfildern) sowie in Ditzingen. Ein eigenes Zentrallabor der SES übernimmt die kontinuierliche Überwachung des Abwassers.

Führungen: Die große Kanalführung der SES findet alle drei Monate statt, der nächste Termin ist am 7. Dezember. Eine Anmeldung ist erforderlich bei Michael Mann, Telefon 0711/216-801 19, E-Mail infoz.ses@stuttgart.de. Weitere Informationen unter www.stuttgart-stadtentwaesserung.de.