Seit vier Jahren ist Fritz Kuhn Oberbürgermeister der Landeshauptstadt. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Elke Hauptmann

Stuttgart - „Ich will vieles verändern, um es zu erhalten.“ Mit großem Enthusiasmus hat Fritz Kuhn am 7. Januar 2013 sein Amt als Oberbürgermeister der 600 000 Einwohner zählenden baden-württembergischen Landeshauptstadt angetreten. Was wollte das erste grüne Stadtoberhaupt Stuttgarts nicht alles anpacken: mehr Kitas, mehr Ganztagsschulen, mehr Bürgerbeteiligung, mehr Grün in der Stadt, weniger Verkehr, weniger Feinstaub, bezahlbare Wohnungen für alle, Kultur in allen Facetten, Ökonomie und Ökologie im Einklang. Jetzt, nach den ersten vier Amtsjahren, macht sich eine gewisse Ernüchterung breit. Schnelle und sichtbare Erfolge sind ihm, der als Vordenker die Grünen im Land und im Bund vorangetrieben hatte, in den Niederungen der Kommunalpolitik verwehrt geblieben. Als Impulsgeber und Problemlöser, der er gern sein möchte, hat er es schwer. „Ich hätte mir vor vier Jahren nicht vorstellen können, wie lange manche Dinge dauern können“, räumt Kuhn knurrend ein.

Oh doch, der Freund von Strategiepapieren kann durchaus Fortschritte vorweisen: In seiner Regentschaft ist die Zahl der Kita-Plätze gestiegen, es wurden mehr als 1000 neue Bäume gepflanzt, ein Jobticket für den öffentlichen Nahverkehr ist eingeführt. Die Stadt steigt wieder in den sozialen Wohnungsbau ein, die Wagenhallen werden saniert, die „Stadt am Fluss“ existiert zumindest schon auf dem Papier. Doch der ganz große Coup des Oberbürgermeisters ist bislang ausgeblieben - sieht man mal von der Schließung des Stuttgarter Fernsehturms ab, zu der sich Kuhn, kaum im Amt, genötigt sah: Experten der eigenen Verwaltung hatten ihn Anfang 2013 auf eklatante Mängel beim Brandschutz hingewiesen. Die öffentliche Erregung über die Schließung war riesig. Nach fast dreijähriger Sanierung ist das Wahrzeichen der Landeshauptstadt inzwischen wiedereröffnet worden. Und Kuhn sagt mit deutlich vernehmbaren Stolz: Es habe sich gelohnt, diese unpopuläre Maßnahme anzupacken.

Durchhaltevermögen ist etwas, was diesen kleinen, schmächtigen Mann mit dem grauen Stoppelhaar auszeichnet. Das braucht er auch: Das Gründungsmitglied der Grünen im Land will nichts Geringeres, als Stuttgart ökologisch, wirtschaftlich und sozial zukunftsfähig machen. Kuhn betreibt das Politikgeschäft lange genug, um einschätzen zu können: „Ich habe mich auf einen ziemlich langfristigen Weg gemacht.“ Dass dieser Weg womöglich nicht von Prestigeprojekten gesäumt sein wird, ist ihm völlig egal. „Ich bin nicht an Leuchttürmen interessiert.“ Seine Projekte sollen langfristig wirken, beteuert er so nachdrücklich, als wäre er noch immer im OB-Wahlkampf. Seinen Blick hat er dabei fest auf sein Gegenüber gerichtet, als wolle er ergründen, ob er dem noch etwas hinzufügen sollte. Oder müsste. Fühlt er sich unverstanden, beginnen Kuhns Sätze nicht selten mit einem ausgedehnten „Also“, gefolgt von einem leicht schnippischen: „Ich erkläre Ihnen jetzt mal, wie ich das sehe.“

Geht es um sein politisches Selbstverständnis, verfolgt der gebürtige Allgäuer mit der ihm typischen Beharrlichkeit und Konsequenz sein Ziel. Beispiel Luftreinhaltung: Obwohl der Feinstaubalarm, den er Anfang 2016 zum ersten Mal ausrief, nur geringe Wirkung zeigt, wird er nicht müde, den freiwilligen Autoverzicht zu propagieren. „Ich bin überzeugt, dass es besser ist, wenn eine Gesellschaft ein Problem durch Eigeninitiative löst als mit Verboten.“ Und weil es die Stadt trotz ihrer 40 Luftreinhaltemaßnahmen allein nicht schafft, legt er sich auch mit dem Bund an, der die blaue Plakette für schadstoffarme Autos hartnäckig verweigere, und stellt die heimische Autoindustrie an den Pranger, weil diese an einer alten Technologie festhalte, statt die E-Mobilität zu forcieren.

Attacken reiten, das kann er. Das hat sich auch bei der Freierkampagne gezeigt: Der Sprachwissenschaftler verteidigt noch immer die derbe Wortwahl seiner Aktion gegen die Armuts- und Zwangsprostitution in der Stadt. „Die Würde des Menschen ist auch beim Ficken unantastbar“ war da auf den dutzendfach im öffentlichen Raum angebrachten Plakaten zu lesen. Vor allem für das F-Wort bezog er ordentlich Prügel. Doch Kuhn, ein wissender, analytisch denkender Mensch, sagt stoisch: „Eine Kampagne, die keine Diskussion anstößt, können Sie vergessen.“

Mitunter aber schießt der überzeugte Realpolitiker auch über das Ziel hinaus. Als ein „Tatort“ eine frei erfundene, wohl aber aus Fragmenten realen Geschehens zusammengepuzzelte Handlung rund um das Bahnprojekt Stuttgart 21 erzählte, fühlte sich das Stadtoberhaupt im Nachgang zur Sendung bemüßigt, die Fernsehzuschauer aufzuklären: „Man darf die Fiktion des Krimis nicht mit der Wirklichkeit verwechseln.“ Korrupte Investoren hätten hier keine Chance. Dafür würden der Gemeinderat und er schon sorgen. Das kann man denken, sagen muss man es aber nicht.

Es ist kein Geheimnis, dass es Kuhn an Leichtigkeit beim Regieren fehl. Auch, weil er der öffentlichen Meinung großen Wert beimisst. Selbst beim fröhlichen Bierfassanstich auf dem Cannstatter Wasen sieht er deshalb bemüht aus. Ihm fehlt das Talent, Herzen im Sturm zu erobern. Der Umgang mit Menschen, die er nicht gut kennt, fällt ihm schwer, er wirkt autoritär und distanziert. So richtig warm geworden sind die Stuttgarter mit ihrem Oberbürgermeister folglich noch nicht.

Aber sie fahren nicht schlecht mit ihm. Denn Kuhn ist Pragmatiker, nicht Ideologe. Das zeigt sich gerade bei jenem noch immer umstrittenen Bahnprojekt, das ihm seine CDU-Vorgänger Manfred Rommel und Wolfgang Schuster vererbt haben und das die Stadtgesellschaft vor vier Jahren tief gepalten hatte. Die Gräben zwischen Befürwortern und Gegnern sind zwar noch da, aber sie sind nicht mehr so tief wie zwischenzeitlich die Baugruben. Die Volksabstimmung und der Aufsichtsratsbeschluss der Bahn zum Weiterbau haben aus dem einstigen Kritiker einen kritischen Begleiter gemacht. Die Verträge seien rechtsgültig, betont Kuhn. Nun müsse schnell gebaut werden, damit die frei werdenden Gleisflächen der Stadt baldmöglichst zur Verfügung stehen. „Ich habe bei Stuttgart 21 vielleicht zu sehr das Verkehrsprojekt gesehen und weniger das Städtebauprojekt“, räumt der Oberbürgermeister im Rückblick ein. Und schaut lieber nach vorn: Er habe große Freude daran, die Entwicklung des Rosenstein-Quartiers voranzutreiben. „Es ist ja eine einmalige Chance, wenn in einer im Kessel ansonsten zugebauten Stadt 85 Hektar Fläche frei werden.“ Dass er sich dafür von enttäuschten Stuttgart-21-Gegnern auspfeifen lassen muss, ficht ihn nicht an. An Selbstbewusstsein mangelt es ihm nicht: „Ich will nicht gestreichelt werden.“

Vielleicht wird Fritz Kuhn bei der Einweihungsfeier des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofes sogar noch als Amtsträger symbolisch ein rotes Band durchschneiden können - selbst dann, wenn das Megaprojekt erst 2023 fertiggestellt wird, wonach es derzeit aussieht. Denn für den Grünen-Politiker muss nicht nach Ablauf der achtjährigen Amtszeit im Anfang 2021 Schluss sein. Der Landtag hat nämlich die Altersbegrenzung für Oberbürgermeister aufgehoben, was dem 61-Jährigen die Option auf Verlängerung eröffnet. Vier weitere Jahre als Stuttgarter OB, die würden Kuhn schon reizen. Aber noch, so beeilt er sich zu betonen, wolle er sich dazu nicht äußern. Erst in drei Jahren werde er bekannt geben, ob er noch einmal antreten werde.