Szene aus der Uraufführung mit Martin Theuer (Otto Trsnjek, vorn), hinten Mitte Felix Jeiter (Franz Huchel). Foto: Pfeiffer - Pfeiffer

Von Thomas Krazeisen
Esslingen – Komische Zeiten sind das. Schmierereien mit Tierblut auf Hauswänden und faschistische Parolen. Kommt einem in diesen Tagen irgendwie bekannt vor. Robert Seethalers Roman „Der Trafikant“, 2012 erschienen, handelt im Wien der späten Dreißigerjahre. Die Banalität des Bösen als ein schleichendes Gift spielt er wie nebenbei ins Hier und Heute. Im Esslinger Schauspielhaus wurde das vielgerühmte Stück jetzt in einer Dramatisierung des Autors und einer Inszenierung von Hans-Ulrich Becker uraufgeführt. Ein zweifacher Glücksfall. Nicht nur weil Seethaler nach einer als misslungen empfundenen Salzburger Bühnenadaption nun die Theaterfassung selbst in die Hand genommen hat und sie der Esslinger Landesbühne anbot. Über WLB-Intendant Friedrich Schirmer konnte ein nicht minder renommierter Vertreter seines Fachs für die Inszenierung gewonnen werden: Hans-Ulrich Becker ist ein alter Weggefährte Schirmers. Aus Stuttgart kennt man ihn als Hausregisseur des damaligen Staatsschauspiel-Intendanten Schirmer.
Auf der Bühne des Esslinger Schauspielhauses hat der ganze Seethaler-Kosmos in einem einzigen Zimmer Platz. Eine Welt am Abgrund, verfrachtet in einen Transitraum der Geschichte zwischen Trafik, Prater und Gestapo-Zentrale. Der Multifunktionsraum mit Schwingtüren ist voll gepackt mit Zeitungsstapeln, einem Postkartenständer, der Trafikantentheke und Bauernschrank. Und einer stattlichen Couch, dem bedeutungsschwersten Requisit dieses so federleicht Glück wie Unglück der Protagonisten aufschüttelnden Stücks, das ja auch eines über den Wiener Psychoanalytiker Sigmund Freud ist. Wenn der schwerkranke Seelenarzt und passionierte Zigarrenraucher, der sich immer mal wieder in seinen vom Krebs befal-lennen Gaumen fasst, auf seiner Couch liegt, die hier vor allem als sein eigenes Krankenlager fungiert, blickt ihm vom Bühnenhimmel herab ein Schmerzensmann am Kreuz entgegen. Der auf ein Baustahlgewebe montierte Heiland – eine entsorgte Ikone wie ein Menetekel für eine geschlossene Gesellschaft von Tätern und Opfern: keine Erlösung, nirgends, auch wenn aus dem Off noch so jenseitsselige Belcanto-Klänge erschallen.
Die Musik zu diesem faszinierenden Totentanz wird freilich im Wesentlichen live beigesteuert: Auch der Multiinstrumentalist Steffen Moddrow hat hinter seinem Schlagwerk noch ein Plätzchen auf der proppenvollen Bühne gefunden. Irgendwann ist das kirmesse-lige Singen und Klingen zu Ende. Die uniformierten NS-Schergen greifen selber zu den Instrumenten und kreieren mit schabenden Metallgeräuschen und schaurig quietischenden Luftballons ihren unter die Haut gehenden Folter-Soundtrack.
Großes Kino ist Beckers Inszenierung, weil der Regisseur immer wieder für Seethalers schnörkellos-lakonische Sprache ebenso ungekünstelte Bilder mit einfachsten Theatermitteln erfindet. Schon der Prolog ist ein echter Hingucker. Das Leben des Franz Huchel und seiner Mutter im idyllisch gelegenen Nußdorf im Salzkammergut wird von heute auf morgen durcheinandergewirbelt. Nicht vom Nazi-Orkan, der später die Trafik von Franz‘ Lehrmeister Otto in Gestalt dreier grauer NS-Eminenzen heimsucht – es ist die Natur selbst, die zu Beginn in der Provinz brachial zu- und das kleine Liebesglück der alleinerziehenden Mutter zerschlägt. Vor dem Tod ihres Lovers, des vierschrötigen Preininger (fulminant in dieser Rolle wie in der des Schlächters Roßhuber und weiteren: Antonio Lallo), wird ihr letztes Techtelmechtel hinter einer halb-transparenten Wand wie ein Scherenschnitt fürs Poesiealbum gezeichnet, ehe die Regie den Tod des Preininger in krachlederner Volkstheater-Manier zelebrieren lässt.
Die Fernbeziehung des im Wiener Großstadtgetriebe gestrandeten Teenagers zu seiner Mutter (Sabine Bräuning) ist wiederum anrührend als den einzelnen Szenen zwischengeschalteter Pas de deux zweier Karten- und Briefeschreiber choreografiert. Mal hockt Franz, den Felix Jeiter großartig als arglos-aufrichtigen, neugierigen Menschenfreund gibt, auf dem großen Bauernschrank, der sein kleines Reich in der Trafik ist. Mal zündet er – es ist Weihnachten – auf einer der herunterhängenden Lampenschirme eine Kerze an. Dann wieder treffen sich Mutter und Sohn zum trauten Gespräch an der Rampe, als wär‘ alles gut und die beiden wieder vereint.
Doch der Schmerz der Trennung bleibt – und neue kommen hinzu. Erste große Liebe, erstes große Enttäuschung. Dem jungen Mann, der sich in dralle Böhmin Anezka (Nina Mohr) verliebt und vor Verlangen am ganzen Leib brennt, muss mitansehen, wie sich das berechnende Flittchen einem Nazi an den Hals wirft. Auch der Libidoexperte Freud (Peter Kaghanovitch) kann ihn nicht kurieren. Und dann verliert Franz noch seinen Lehrmeister, den weitsichtigen Politikpolterer und warmherzigen Vater-Ersatz Otto Trsnjek (großartig: Martin Theuer), der neben seinen Zeitungen auch ein paar harmlose Erotikmagazine unterm Tresen hat. Er wird von den Nazis verhaftet und stirbt unter ungeklärten Umständen.
Am Ende ist Franz allein zuhause. Er führt die Trafik weiter. Setzt ein Zeichen. Zeigt Haltung. Doch er wird gesehen und verpetzt, als er die ihm übersandte Hose seines Ziehvaters am Fahnenmast des Gestapoquartiers hisst. Auch er wird abgeholt. „Ich weiß noch nicht wohin, aber es wird weitergehen“, schrieb er der Mutter einmal. Daran wird er sich jetzt halten müssen.

Weitere Aufführungen im Esslinger Schauspielhaus am 11. und 24. November sowie am 2., 16. und 20. Dezember.